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Dieses Foto zeigt eine englische Kavallerie zu Zeiten des Krimkriegs 1855. Aufgenommen von Roger Fenton.

Foto: AP/Fenton

"Man fällt doch nicht unter einem falschen Vorwand in ein anderes Land ein, um seine Interessen zu behaupten", rief der amerikanische Außenminister John Kerry an die Moskauer Adresse aus. "Das ist im 21. Jahrhundert ein Verhalten wie im 19. Jahrhundert!" Viele staunten über die ungefilterten Worte des US-Chefdiplomaten.

Doch Kerry sprach nicht aus dem hohlen Bauch. 1853 hatte in der Krimgegend ein Krieg aus einem nichtigen Anlass begonnen. Und er forderte einen furchtbaren Blutzoll; nach unsicheren Schätzungen starben eine halbe Million Soldaten in diesem ersten "modernen", das heißt industriell betriebenen Stellungskrieg. Heute weitgehend vergessen, endete er mit einem "Pariser Frieden", der nichts regelte; vielmehr barg er den Keim für weitere Konflikte – und russisches Revanchedenken.  

Der Krimkrieg ging 1853 vom russischen Zaren Nikolaus I. aus, als er die türkischen Protektorate Walachei und Moldau besetzte. Zum Vorwand nahm der düstere Petersburger einen Streit zwischen orthodoxen Christen und französischen Katholiken um die heiligen Stätten Palästinas, das damals zum Ottomanischen Reich gehörte. Dessen innerer Zerfall spornte Nikolaus an, über das Schwarze Meer hinaus Richtung Bosporus und Balkan vorzudringen.

Der russische Angriff auf die beiden Donaufürstentümer bewirkte 1854 den Kriegseintritt Englands und Frankreichs. Die beiden Westimperien wollten aus regionalen Eigeninteressen den Status quo im Nahen und Mittleren Osten bewahren; Napoleon III., ein Neffe des französischen Kaisers, war zudem protokollarischer Schutzbeauftragter Jerusalems. Auch wollte er sein Land nach der Niederlage von Waterloo und dem Wiener Kongress wieder zu einer europäischen Führungsmacht machen. Zeitweise schickte er deshalb mehr als 100.000 französische Soldaten auf die Krim.

Strategischer Vorposten des Russischen Reiches

Der blutige Grabenkrieg, in dem Cholera und Seuchen schlimmer wüteten als jede Artillerie, konzentrierte sich bald auf die – von den Russen im 18. Jahrhundert gegründete – Hafenstadt Sewastopol. Nach fast einjähriger Belagerung gelang den Franzosen Ende 1855 die Einnahme von Fort Malakow innerhalb der Stadtmauern; die Russen sprengten daraufhin die Stadtfestung in die Luft und zogen ab. Das durch die Kriegskosten völlig ausgebrannte Zarenreich musste im Frühling danach in den "Pariser Frieden" einwilligen. Das Schwarze Meer wurde demilitarisiert, Russland verlor Bessarabien.  

Alexander II., Nachfolger des 1855 verstorbenen Despoten Nikolaus, zahlte damit einen eher geringen Preis. In Petersburg wartete man aber nur auf eine Gelegenheit, die russischen Ansprüche auf die Krim von Neuem geltend zu machen. Der Zar lancierte die Besiedlung der milden Halbinsel durch russische Bauern und Händler; dort lebende Tataren wurden erstmals vertrieben. Während des deutsch-französischen Krieges von 1871 setzte sich Russland schlicht über die Bestimmungen des Pariser Friedens hinweg, bis die Alliierten eine neue Schwarzmeerflotte billigten. Sewastopol wurde der strategische Vorposten im Südwesten des russischen und später sowjetischen Imperiums. 

Deutsche Belagerung Sewastopols

Nach der neuen, diesmal deutschen Belagerung und Besetzung Sewastopols im Zweiten Weltkrieg ließ Stalin große Teil der – angeblich nazifreundlichen – Krimtataren nach Zentralasien deportieren. Zugleich rüstete er den Militärhafen Sewastopol massiv auf. Der Rest ist bekannt: Nikita Chruschtschow "schenkte" die Krim 1954 aus raumplanerischen Überlegungen der Ukrainischen Sowjetrepublik. Das hatte fatale Folgen, blieb die Halbinsel doch beim Zusammenbruch der UdSSR ukrainisches Staatsgebiet. 1993 erklärte das russische Parlament Sewastopol zu russischem Territorium; dann wurde die Schwarzmeerflotte unter der Ukraine (17 Prozent) und Russland (83 Prozent) aufgeteilt.

Moskau behält den Marinestützpunkt aufgrund eines Abkommens mit Kiew bis 2042. Für die Russen ist Sewastopol aber unverzichtbare Heimat, ja, mehr noch: ein nationaler Mythos. 73.000 Russen – neben 70.000 Franzosen und 20.000 Briten – starben allein bei der Belagerung des Kriegshafens; der junge Leo Tolstoi schrieb in der eingekesselten Stadt, seine Seele sei erschüttert durch die Bilder von "Blut, Qualen und Tod". Auf bedeutend weniger Gegenwehr als im Krimkrieg gestoßen, vermag die neue Besetzung der Krim angesichts ihrer Geschichte eigentlich nicht zu überraschen. (Stefan Brändle, derStandard.at, 5.3.2014)