Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt kritisiert den Umgang Österreichs mit Tabus in der Forschung.

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derStandard.at: Die Zeiten, als Galilei gegen jedes Tabu auftrat und das heliozentrische Weltbild vertrat, sind längt vorbei. Wo gibt es denn heute Tabus in der Forschung?

Felt: Meistens reden wir von Tabus, meinen aber  Verbote. Das Verbot, Menschen zu klonen, das in Österreich geltende Verbot, aus Embryonen Stammzellen zu gewinnen, wären zwei Beispiel. Tabus sind aber unausgesprochene Dinge, sie betreffen vor allem das, was nicht gesagt, gedacht, gefühlt oder berührt werden darf. Forschung mit –in anderen Ländern hergestellten – embryonalen Stammzellen ist zwar nicht verboten, aber doch weitreichend mit einem Tabu belegt. Es geht hier negativ gesprochen um Schweigen und Verdrängen, Tabus bedeuten auch immer Stagnation. Forscher, die sich mit embryonalen Stammzellen beschäftigen, haben in einem solchen Umfeld natürlich ein Problem, über ihre Arbeit zu sprechen. Solche Tabus und ein Nachdenken über Grenzen können auch Innovationen hervorbringen, wie man etwa bei der Forschung an reprogrammierten Stammzellen sieht, welche die embryonalen Stammzellen mittelfristig ersetzen sollen. 

derStandard.at: Vermissen Sie also die gesellschaftskritische  Analyse der Technologieentwicklungen?

Felt: Während wir im Fall der grünen Gentechnik sehr kritisch sind,  hyperkritisch, sind wir im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie fortschrittsgläubig. Da gibt es zu wenig öffentliche Diskussion. Natürlich spielt da ein Gewöhnungseffekt mit. Jeder hat ein Mobiltelefon, fast jeder einen Computer. Aus diesem Grund glauben wir, dass das schon so seine Richtigkeit hat und wischen Bedenken gerne vom Tisch. Wenn aber jemand sagt, so wie vor Jahren die Ärztekammer, dass das Handy vielleicht nicht unter dem Kopfpolster liegen sollte, dass man es nicht in die Hosentasche einstecken sollte, dann wird er belächelt.  

derStandard.at: Welche Rolle spielt der Staat bei  technologischen Entwicklungen?

Felt: Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Entscheidungen, da ist es schon sehr schwierig sich zu verorten. Einerseits werden etwa im Bereich der Reproduktionsmedizin Dinge tabuisiert und sogar explizit untersagt, andererseits schafft man in Europa durch unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen Umgehungsmärkte. Jeder Einzelne kann wie ein Tourist durch die Technologielandschaft fahren und sich überall das holen, er braucht. Es gibt Ärzte im Dreiländereck, die in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich jeweils eine Reproduktionsklinik betreiben, weil in jedem Land andere Gesetze herrschen. Nehmen Sie die Frage der Leihmutterschaften – da gibt es weltweit viele  verschiedene rechtliche Grundlagen.

derStandard.at: Sollten Wissenschafter vor diesem Hintergrund Tabubrüche forcieren?

Felt: Bisweilen sollten sie es. Tabubrüche sind ein essenzieller Teil von Veränderung, sie erlauben das Entstehen von Innovationen. Ein populäres Beispiel ist die Geschichte von Ignaz Semmelweiss. Er wagte es, die Ursachen für das Kindbettfieber an den Händen der Ärzte zu sehen, der weißen Götter. Das war damals undenkbar und völlig inakzeptabel. Was nicht sein soll, kann auch nicht wahr sein. Man muss sich fragen, wie das im heutigen Wissenschaftssystem funktioniert.

derStandard.at: Was glauben Sie?

Felt: Ich glaube, dass die Wissenschaft an einen Punkt gekommen ist, wo sie sich selbst mehr hinterfragen sollte. Warum gibt es immer mehr Publikationen, die sich als falsch oder im schlimmsten Fall als Betrug erweisen? Versagt das Peer-Review-System? Wir müssen uns fragen, wieso das Wissenschaftssystem derartige Phänomene fördert und davon wegkommen, diese Fälle als Einzelfällen von Rechtsbrechern zu betrachten. Ich will lieber wissen, warum das alles passiert. Es ist der immer größer werdende Druck,  schnell und viel publizieren zu müssen, der die Wissenschafter zur Ungenauigkeit verleitet, der aber auch immer mehr den Mainstream, die Angepasstheit fördert. Denn es gibt auch das Tabu des Scheiterns. Wir publizieren so gut wie niemals Ergebnisse von Experimenten, die nicht funktioniert haben, obwohl gerade das viel zur Entwicklung des Wissens beitragen könnte. Um Geld zu bekommen, müssen wir immer mehr versprechen als Forschung wirklich einlösen können wird. Unsere Gesellschaft scheint nur Erfolgsmeldungen zu erwarten und deshalb funktioniert auch die Wissenschaft so. Diese Tabus zu brechen, scheint besonders wesentlich. (Peter Illetschko, derStandard.at, 4.3.2014)