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Ein russischer Soldat überreicht einem Mädchen auf der Halbinsel Krim sein Handy.

Foto: APA/EPA/Shipenkov

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Ukrainische Soldaten hinter den Toren des Militärstützpunkts, russische Soldaten davor.

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derStandard.at: Ist die Krim schon an Russland verloren?

Lindner: Die Krim ist im Moment unter Kontrolle der dortigen prorussischen Regierung, und damit ist sie vorläufig der Kontrolle der ukrainischen Zentralregierung entzogen. Sie ist aber nicht unter einer Hoheitskontrolle der Russischen Föderation. Das muss man ganz deutlich unterscheiden. Es gibt eine prorussische Regierung auf der Krim, aber es ist nicht die russische Regierung, die dort unmittelbar die Macht ausübt.

Die Einflussmöglichkeiten der westlichen Staatengemeinschaft müssen in diesen Tagen genutzt werden, um auf die Konfliktparteien einzuwirken. Und ich nenne hier die Ukraine und Russland. Hier muss man in einen Trialog mit Russland, der Ukraine und einer dritten, vermittelnden Seite – die im Wesentlichen durch die Europäische Union, eventuell auch durch die Vereinigten Staaten gestellt wird - eintreten. Jetzt ist die Stunde der Diplomatie. Noch sind nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um einen bewaffneten Konflikt zu verhindern.

derStandard.at: Putin hat allerdings schon Fakten geschafft, alle anderen sehen dabei zu. Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es jetzt überhaupt noch?

Lindner: Deutschland hat dem russischen Präsidenten Putin vorgeschlagen, eine Kontaktgruppe zur Lösung der Krise zu bilden. Dieser Vorschlag wurde offensichtlich angenommen. Jetzt geht es darum zu gestalten, wie diese Kontaktgruppe ausgestattet ist und welches Mandat sie hat. Das ist ein Schritt in Richtung Rückkehr zur Diplomatie. Es wäre wichtig, dass die russische Seite unterdessen keine weiteren Fakten schafft, aber auch, dass die ukrainische Seite vor weiteren Schritten wie etwa der Abschaffung von Russisch als zweiter regionaler Amtssprache Abstand nimmt, die zur weiteren Verschärfung der Situation beitragen. Es kommt jetzt darauf an, die Kompromissfähigkeit auf allen Seiten zu fördern. Die deutsche Wirtschaft ist insgesamt in großer Sorge, dass die Entwicklung weiter instabil sein könnte. Dasselbe gilt sicherlich für die österreichischen Unternehmen und die Banken, die ja auch in der Ukraine sehr stark vertreten sind.

derStandard.at: Ist es überhaupt noch denkbar, dass die Krim-Halbinsel bei der Ukraine bleibt?

Lindner: Wenn die neue Regierung in Kiew, insbesondere eine Regierung nach Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen, die Rechte der Schwarzmeerflotte, die ja bis 2042 gelten, bestätigt und die Rechte der russischsprachigen Mehrheit auf der Krim gewahrt bleiben bzw. der Status quo vor dem 20. Februar 2014 wiederhergestellt würde, dann gibt es auch die Möglichkeit, mit einer erweiterten Autonomie die hoheitliche Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine zu erhalten. Jetzt kommt es darauf an, dass einerseits Russland seine Interessen gewahrt, andererseits die Ukraine ihre Territorialität trotzdem nicht bedroht sieht.

Das betrifft die Rechte der russischsprachigen Minderheiten in der Gesamtukraine, das betrifft die Sprachengesetzgebung. Russisch sollte zweite Amtssprache bleiben. Auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten sollten nicht beeinträchtigt werden. Eine Rückkehr zu einem hohen Gaspreis oder gar ein Handelskrieg wäre für die Ukraine existenziell bedrohlich und auch für Russland keine Option, da es die Ukraine nach wie vor als Transitland braucht.

derStandard.at: Zum jetzigen Zeitpunkt verwundert es doch sehr, dass dieser Konflikt nicht schon früher ausgebrochen ist. Die Mehrheit der Russen auf der Krim fühlt sich ja nicht erst seit gestern Russland zugehörig.

Lindner: Es gab einen von allen Seiten akzeptierten Status quo. Auch Russland hat damit leben können. Der Pachtvertrag für die Militärbasis in Sewastopol, der vor einigen Jahren ausgehandelt wurde, hatte ja genau das Ziel, dass man einerseits die Schwarzmeerflotte in Sewastopol hält und die Rechte der dortigen russischen Minderheiten achtet und gleichzeitig die Autonomie im Bestand der Ukraine anerkannt hat. Es wäre wichtig, zu diesem Zustand zurückzukehren.

In einem möglichen Kompromiss müssen sich auch die russischen Interessen wiederfinden. Wir sind jetzt in einer Lage, in der Russland bestimmte Forderungen stellen wird, zum Beispiel was die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato betrifft. Das ist eine rote Linie für Russland, war es vor zehn Jahren und ist es immer noch. Auch die Frage eines möglichen Freihandelsabkommens der EU mit der Ukraine muss man neu diskutieren.

Ich glaube, die Ukraine braucht jetzt eine Phase der Konsolidierung, eine Phase der wirtschaftlichen Erholung, in der sie eben nicht dem einen oder anderen Integrationsraum angehört. Und erst in einem zweiten Schritt ist es sinnvoll, sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland über ein Freihandelsabkommen nachzudenken. Das heißt, es gilt nicht die Ukraine alleine in ein europäisches Freihandelskonzept einzubinden, sondern mit Russland gemeinsam über solche Schritte nachzudenken. Das ist vor dem EU-Gipfel in Vilnius leider versäumt worden.

derStandard.at: Hat Putin in dieser Situation überhaupt etwas zu verlieren?

Lindner: Er hat natürlich sein Image zu verlieren, und das gilt nicht nur für ihn, sondern für Russland insgesamt, auch als Investitionsstandort und Partner einer globalisierten Weltordnung. Es ist allerdings keine gute Idee, den G-8-Prozess unmittelbar einzufrieren. Es wäre wichtig, gerade dieses Format wie auch den Nato-Russland-Rat zu nutzen, um mit Russland zu reden.

derStandard.at: Es ist immer wieder die Rede davon, dass Russland die Protestbewegung am Maidan als faschistisch darstellt. Teilweise stimmt das ja sogar.

Lindner: Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die durch das Janukowitsch-Regime und die 95 Toten auf dem Maidan traumatisiert ist. Der Maidan hat sich insoweit verselbstständigt, als dass es eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Gruppen gibt und täglich Hunderte hinzukommen. Personen, die mit der Revolution im engeren Sinne gar nichts zu tun hatten, schlüpfen jetzt unter das Dach des Maidan und sind von der Regierung nicht mehr kontrollierbar. Womöglich muss sich die neue Regierung, wenn sich die Sache weiter radikalisiert und beispielsweise Plünderungen und Konfiskationen von Privatfahrzeugen zunehmen, bald gegen den Maidan, aus dem sie ja hervorgegangen ist, wenden.

derStandard.at: Die Europäische Union scheint die fragile Lage unterschätzt zu haben.

Lindner: Deswegen ist es wichtig, vor Ort präsent zu sein und sich von der Regierung erläutern zu lassen, welchen Einfluss die Regierung noch auf die Protestgesellschaft hat; und womöglich auch mit den Entsandten des Maidan ins Gespräch zu kommen. Denn wenn das nicht geschieht, dann sind alle Beschlüsse, die man mit einer ukrainischen Regierung akkordiert, in Gefahr, vom Maidan nicht angenommen zu werden. Wir haben es neben Parlament und Präsident mit einer dritten Kraft zu tun, die man konsultieren, aber auch einfangen muss, weil man ansonsten an eine Pluralität von politischen Akteuren gerät, mit der ein Kompromiss völlig unmöglich ist.  (Teresa Eder, derStandard.at, 3.3.2014)