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Den Rücktritt der Regierung fordern Tausende in der Türkei, nachdem Telefonmitschnitte die Korruptionsvorwürfe anheizten.

Foto: AP/Ozbilici

Im Abendfernsehen, in den Pausen zwischen den Seifenopern, jagt nun ein Spot den anderen. "Immer die Nation, immer der Dienst", heißt es, "daima millet, daima hizmet". Ein Lastwagenfahrer im verschneiten Osten der Türkei rauscht zufrieden durch einen der neuen Straßentunnel. Die Oma nimmt ihren Enkel nach erledigten Schulaufgaben mit der neuen U-Bahn unter dem Bosporus kurz einmal zum Süßigkeitenkaufen auf die europäische Seite von Istanbul. Das alles macht die AKP möglich, immer an die Nation denkend, immer zu Diensten.

In 30 Tagen sind Wahlen, Kommunalwahlen gerade einmal, aber es geht um alles. Das Regime ist im Überlebensmodus. Seit zu Wochenbeginn ein angebliches, abgehörtes Telefongespräch zwischen dem türkischen Regierungschef und seinen jüngeren Sohn Bilal in Umlauf gebracht wurde, scheint der Machtkampf im islamischen Lager keine Grenzen mehr zu kennen. Tayyip Erdogan hatte recht: Es geht um seinen Sturz. Der Korruptionsskandal, der am 17. Dezember vergangenen Jahres mit einer Polizeirazzia begann, soll das Ende seiner nun elf Jahre langen Herrschaft in der Türkei bringen. Erdogan hatte nur die Wahl, die Justiz die Arbeit erledigen zu lassen oder aber selbst die Justiz zu erledigen. Der Machtmensch Erdogan zögerte keinen Moment.

Dass sich Tayyip Erdogan nun wie Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, ist vorstellbar. Die Wähler seiner Partei für Gerechtigkeit und Justiz (AKP) hat er immer noch hinter sich, auch nach zwei Monaten kompromittierender Telefonmitschnitte, die unablässig im Internet erscheinen.

"Für wen soll ich denn stimmen?", fragt Ali Kanalici, ein wohlhabender Autoverkäufer. "Es gibt niemanden sonst. Wenn eine andere Partei an die Macht kommt, wird sie sich auch bereichern." Kanalici verkauft Audis in Gaziantep, einer der Boomstädte des Erdogan-Jahrzehnts im Osten der Türkei. "Ein A3 für mehr als 80.000 Lira (derzeit 27.000 Euro) ist heute hier ein billiges Auto. Das zeigt doch, dass es den Leuten besser geht als früher", sagt der 32-jährige Mann.

Früher war zum Beispiel in den 1990er-Jahren. "Wir haben in den 90ern alles verloren wegen der Koalitionsregierungen. Wir hatten verrückte Abwertungen. Ich erinnere mich an den Dollar, der von 600 auf 1200 Lira stieg", erzählt Murat Özkanli, Verkaufsleiter in einem Polyesterunternehmen in Gaziantep. Özkanli ging damals mit seiner Firma bankrott. "Die monatlichen Zinsen waren 13 Prozent. Heute kannst du einen Kredit für 0,1 Prozent bekommen. Wirtschaftliche Stabilität ist für uns wichtig", sagt der 43-Jährige.

Rücktritt gibt es nicht

Ob die Telefongespräche zwischen Vater und Sohn Erdogan authentisch sind oder Montagen, ist schon nicht mehr wichtig. Erdogans Wähler sind von der Fälschung überzeugt, seine Gegner eben vom Gegenteil. Strafrechtlich haben illegal abgehörte Gespräche keinen Wert. Und Rücktritt aus freien Stücken oder aus politischer Verantwortung gibt es nicht. Die Türkei tickt anders.

"Man hört nicht auf zu applaudieren und zu klatschen, bis es sicher ist, dass der Sultan auf dem Weg ins Aus ist", stellte Can Dündar, ein Kolumnist und TV-Moderator, zum Ende dieser denkwürdigen Woche fest.

Den "Ober-Dieb", so nennt Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu nun den Premier. Doch Kiliçdaroglus sozialdemokratisch-nationale Partei CHP profitiert kaum von den Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung Erdogan, glaubt man den Umfragen; anders die Rechtsnationalisten und die Kurdenpartei.

Die Istanbuler Justiz, mittlerweile vom Kopf auf die Füße gestellt, ließ am Freitag auch die Letzten der Razzia vom 17. Dezember aus der Untersuchungshaft: den iranisch-türkischen Geschäftsmann Resa Sarrab und die Söhne des früheren Innen- und des Wirtschaftsministers. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 1.3.2014)