Eine Sitzung des EuGH: Unter anderem hier in Luxemburg wird über mögliche Vertragsverletzungen entschieden.

Foto: Gerichtshof der Europäischen Union

STANDARD-User und -Redakteure schreiben ein EU-Lexikon. Hier können Sie Ihre Fragen posten.

Grafik: Maria von Usslar

"Wie sieht ein Vertragsverletzungsverfahren in der EU genau aus – wer kann das initiieren, wie lange dauert das, welche Strafen gibt es?", fragt User Johannes H. per E-Mail.

Zuerst die Verträge, dann die etwaige Verletzung: Der Begriff "die Verträge" wurde 2007 im Vertrag von Lissabon als Klammerbegriff eingeführt und bezeichnet die aktuelle rechtliche Grundlage der Europäischen Union. Damit gemeint ist einerseits der Vertrag über die Europäische Union (EUV), der seinen Ursprung in den 1950er Jahren in den Gründungsverträgen der EU-Vorgänger EGKS, EURATOM und EWG hat. Über diverse Zwischenstationen – unter anderem in Maastricht, Amsterdam, Nizza und schließlich Lissabon – ist dieser Vertrag zu seiner jetzigen Form gekommen. Gemeinsam mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bildet der EUV das Primärrecht der Europäischen Union.

Aus diesem Primärrecht leiten sich zahlreiche verbindliche (Richtlinien und Verordnungen) und unverbindliche (Entschließungen und Stellungnahmen) Rechtsakte ab. Ergänzt wird das Primärrecht und das daraus abgeleitete Recht noch mit internationalen Übereinkünften, die die EU trifft (das TTIP ist ja ein potenzieller Kandidat). Somit ist das Unionsrecht perfekt, das der Volksmund gerne als Europarecht oder EU-Recht bezeichnet. Es legt fest, wie die EU zu funktionieren hat.

Die Herren und die Hüterin der EU-Verträge

Die EU-Mitgliedsstaaten – die sogenannten "Herren der Verträge" – sind dazu verpflichtet, in ihrem nationalen Rahmen für die Einhaltung des Unionsrechts zu sorgen. Die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" wacht darüber. Laut Artikel 258 AEUV kann sie bei einem Regelverstoß eines Landes von Amts wegen ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Als Regelverstoß gilt einerseits die Verletzung von Unionsrecht und andererseits die Unterlassung von Verpflichtungen, die im Unionsrecht festgeschrieben sind. Dabei spielt es keine Rolle, welche staatliche Stelle – Länder, Gemeinden, Ämter – ein mögliches Unrecht begangen hat; es wird immer der Staat zur Rechenschaft gezogen.

Ein Vertragsverletzungsverfahren muss nicht unbedingt vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) enden. In einem ersten Schritt wird dem betreffenden EU-Mitgliedsstaat die Möglichkeit gegeben, innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zur betreffenden Angelegenheit zu nehmen. Dann gibt die EU-Kommission eine "mit Gründen versehene Stellungnahme" ab, in der einerseits die Vertragsverletzung geschildert und andererseits dem Mitgliedsstaat eine Frist gesetzt wird, um den Verstoß zu beenden. Sollte dies nicht zeitgerecht geschehen, kann die EU-Kommission den EuGH anrufen, was den Beginn des gerichtlichen Verfahrens markiert.

Warten auf das Zwangsgeld

Stellt der EuGH gemäß Artikel 260 AEUV eine Vertragsverletzung eines Mitgliedsstaates fest, wird er im Urteil dazu aufgefordert, seine vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Wird dem wieder nicht nachgekommen, kann die EU-Kommission – nach erneuter Stellungnahme des Mitgliedsstaates – ein Zwangsgeld verhängen. Im Jahr 2012 beispielsweise wurden 35 Verurteilungen gegen neun Mitgliedsstaaten ausgesprochen. Die Höhe der vorgeschlagenen täglichen Zwangsgelder lag zwischen 5.909,40 und 315.036,54 Euro (siehe den bislang letzten Jahresbericht als PDF). Dafür bedarf es neben dem eigentlichen Vertragsverletzungsverfahren ein zweites Verfahren, in dem die Nichtbefolgung des ersten Urteils festgestellt wird.

Einen fixen Zeitplan für Vertragsverletzungsverfahren gibt es übrigens nicht. Es liegt im Ermessen der EU-Kommission, wann sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet und wann eine Vertragsverletzungsklage einreicht. Auch der EuGH ist bei seiner Urteilsverkündung an keine Frist gebunden, nicht selten hat man ein paar Jahre zu warten.

Die EU-Kommission kann auch von anderen Stellen auf mögliche Vertragsverletzungen aufmerksam gemacht werden. Laut Artikel 259 AEUV ist es möglich, dass ein EU-Mitgliedsstaat ein Verfahren gegen einen anderen Mitgliedsstaat anstrengt. Das beschriebene Prozedere ändert sich nur insofern, als zu Beginn des Vertragsverletzungsverfahren beiden involvierten Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gegeben wird, eine Stellungnahme abzugeben.

Jeder kann sich beschweren

Schließlich kann auch fernab der EU-Struktur ein Vertragsverletzungsverfahren ausgebrütet werden. Unternehmen, NGOs oder einzelne Bürger können sich an die EU-Kommission wenden, um einen möglichen Verstoß eines EU-Mitgliedsstaates gegen das Unionsrecht anzuzeigen. Der Beschwerdeführer muss dabei nicht nachweisen, dass er von dem behaupteten Verstoß persönlich betroffen ist. Die Beschwerde an die EU-Kommission sollte gewisse Normen erfüllen (hier einzusehen), unter anderem darf sie sich nicht auf private Streitigkeiten beziehen.

Im Jahr 2012 wurden insgesamt 3.141 sogenannte Bürgerbeschwerden eingereicht, die sich vor allem gegen Italien, Spanien und Frankreich richteten und vorweigend die Bereiche Umwelt, Justizangelegenheiten und Binnenmarkt betrafen. Im gleichen Zeitraum wurden 2.859 Beschwerden bearbeitet, 621 davon führten dazu, dass die EU-Kommission Kontakt zum betreffenden EU-Mitgliedsstaat aufnahm, um eine mögliche Vertragsverletzung zu klären.

Seit knapp vier Jahren gibt es zudem das Projekt "EU-Pilot". Mit dieser Initiative der EU-Kommission sollen Beschwerden von EU-Bürgern rascher beantwortet und Probleme schneller gelöst werden, bevor es womöglich zu einem langwierigen Vertragsverletzungsverfahren kommt. Die EU-Kommission hat hier grundsätzlich 20 Wochen Zeit, um auf eine Bürgerbeschwerde zu antworten.

Übrigens: Von 1.343 Verletzungsverfahren, die Ende 2012 anhängig waren, betrafen 51 Österreich. Damit liegt es auf dem zehnten Platz hinter Deutschland (61). Die meisten Verfahren liefen gegen Italien (99), die wenigsten gegen Lettland (20). (Kim Son Hoang, derStandard.at, 28.2.2014)