"Ungarische Tänze" - frei nach Johannes Brahms - erhalten in der Choreografie von Martin Schläpfer eine politische Note.

Foto: Gert Weigelt

St. Pölten - Viktor Orbáns Politik ist, einmal abgesehen von den jüngsten Querelen um das Gastspiel des Ungarischen Nationaltheaters in der Burg, in letzter Zeit etwas aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten. Gut also, dass der deutsche Choreograf Martin Schläpfer im Festspielhaus St. Pölten daran erinnert hat, was in unserem Nachbarland vorgeht.

Der Auftritt des von Schläpfer geleiteten, in Duisburg und Düsseldorf beheimateten Balletts am Rhein war am Samstag der erste Teil eines Spitzentanz-Diptychons im Festspielhaus, das Mitte März mit einem Stück des französischen Ballet Preljocaj vervollständigt wird. Darin stellt der Choreograf Angelin Preljocaj seine Auffassung von der Apokalypse vor. Das passt: Eine - warnende - "Offenbarung" für Europa ist die nationalistische Politik im heutigen Ungarn allemal.

Das greift Schläpfer in seinem dreiteiligen Abend in dem Stück Ungarische Tänze zur Musik von Johannes Brahms (1833-1897) auf. Seine Kompositionen unter demselben Titel machten Brahms seinerzeit bekannt. In Schläpfers Ballett werden 15 dieser Tänze vom Band gespielt - sämtlich um eine auffällige Nuance zu leise. Das geht mit den politischen Pointen, die der in Deutschland hochgelobte Choreograf gezielt setzt, konform. Die Tänzer wedeln mit winzigen Papierfähnchen mit den ungarischen Farben, einer klemmt sich eine EU-Flagge an den Allerwertesten, und eine nackte Gestalt lässt die blaue Fahne mit dem Sternenkranz, in die sie gehüllt war, fallen: als Bloßstellung Europas.

In ein Ambiente aus fröhlichen Tanzpassagen bringt Schläpfer bittere Momente ein. Es gibt Anspielungen auf rassistische Vorfälle, und ein knüppelbewehrter Schlägertrupp bringt ein in schwarze Tracht gekleidetes Paar um. Die Quintessenz: In politisch ambivalenten Zeiten gibt es keine Unschuld in Kunst und Unterhaltung. Unschuldig kommen auch die beiden anderen Stücke des Abends nicht daher.

Weder das Solo Ramifications, in dem die Ballerina Marlúcia do Amaral zur Musik von György Ligeti ihr Ausnahmetalent zeigt, noch die Gruppenarbeit Drittes Klavierkonzert zu einem Konzert für Klavier und Streichorchester von Alfred Schnittke. Beide Choreografien handeln von Klischees, wie sie starken Frauen gern zugeschrieben werden. Die Protagonistin in Drittes Klavierkonzert, getanzt von Yuko Kato, stellt eine von Selbstzweifeln beunruhigte Männerverschleißerin dar, die ihre Gegner allein mit der Macht ihres Blicks niederhalten kann. Und die Solistin in Ramifications tritt erst zwar verhalten auf, klappt sich aber, sobald sie die Bühnenmitte erreicht hat, auf wie ein Messer mit vier Klingen. Von einem Moment zum anderen wechselt sie zwischen Wut, Leiden, einer dämonischen Kälte und lasziver Verträumtheit.

Die Bewunderung für Frauen-Power kommt hier aus einer männlichen Außensicht. Und das am Ende begeistert applaudierende Publikum erlebt die virtuose Ästhetisierung des Respekts vor starker Weiblichkeit. Noch interessanter wäre es gewesen zu sehen, wohin den differenziert choreografierenden, sehr musikalischen Martin Schläpfer einige Brüche mit dem virtuosen Klischee getrieben hätten. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 24.2.2014)