Pollack: "Wir sollten imstande sein, alle Geschichten zu erzählen."

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STANDARD: Sie haben ein Buch mit dem Titel "Kontaminierte Landschaften" geschrieben. Was sind solche Landschaften?

Pollack: Dieser Begriff ist unwissenschaftlich. Ich habe ihn selber erfunden. Eine kontaminierte Landschaft ist für mich eine Landschaft, die nach außen hin nichts Auffälliges aufweist, die aber etwas verbirgt. Plakativ gesprochen: Wenn ich beginne zu graben, kommt etwas zum Vorschein. Etwas wurde zugedeckt, das zu einem Teil der Landschaft wurde. Heute kann ich Landschaft kaum mehr unkontaminiert denken. Das ist nicht immer angenehm. Wo ich gehe und stehe, überlege ich oft: Hoffentlich verbirgt diese Landschaft nichts Schlimmes.

STANDARD: Sie steigen über die idealisierten Landschaften Ihrer Kindheit ein. Wodurch sind diese Sichtweisen aufgebrochen?

Pollack: Es hat mich sensibilisiert, dass ich die Landschaft meiner Kindheit idealisiert habe. Inzwischen weiß ich, dass die Realität nicht ganz so schön war. In meiner Erinnerung sehe ich den Einschichthof am Fuße des Grimmings vor mir, wo wir evakuiert waren. Ringsum eine wunderbare Landschaft. In Wahrheit war unser Leben geprägt von Entbehrungen und Unsicherheiten. Aber davon habe ich nichts mitbekommen oder mitbekommen wollen. Diese Diskrepanz war später für mich ein Grund, mich mit dem Problem, wie Landschaft auf uns wirkt, auseinanderzusetzen. Sie ist immer doppelbödig. Hinter einem idealisierten Bild steckt meist etwas anderes. Kaum jemand wird in einer Landschaft geboren, in der nie etwas passiert ist.

STANDARD: Wohin haben Sie Recherchen zum Thema geführt?

Pollack: Es war nicht so, dass ich mich bewusst auf die Reise zu kontaminierten Landschaften gemacht hätte. Diese Landschaften sind eher zu mir gekommen. Im Zuge verschiedener Recherchen begegnete ich immer wieder diesem Phänomen. Als ich Material für Der Tote im Bunker sammelte, machte ich mich auch auf die Suche nach der Jagdhütte meines Großvaters im Gottscheer Hornwald. Wo die sich befand, im heutigen Kocevski Rog, nicht weit von Ljubljana, stieß ich auf Massengräber. Dort haben jugoslawische Kommunisten 1945 politische Gegner, auch Deutsche, ermordet und ihre Leichen in Karsthöhlen geworfen. Mein Großvater hat damit nichts zu tun, trotzdem war es für mich unglaublich bedrückend: Wo mein Großvater, ein unbelehrbarer Nazi, früher gejagt hat, befinden sich heute Massengräber. Ein anderes Beispiel: Es gibt eine wunderbare Aulandschaft in der Nähe von Linz. Inmitten dieser Landschaft steht ein unscheinbares Denkmal für den Treiberjungen, den mein Vater (SS-Sturmbannführer Gerhard Bast, Anm.) versehentlich erschossen hat. Seither ist für mich diese Landschaft eine andere. Ich habe über die Jahre viel zusammengetragen und jetzt versucht, das zu ordnen.

STANDARD: Sie sind Autor und Historiker. Vieles, das Sie schildern, ist aus Ihrer Familiengeschichte motiviert. Bedingt das eine das andere?

Pollack: Natürlich wurde ich durch meine Familiengeschichte geprägt und zur Beschäftigung mit solchen Themen geführt. Als ich mich entschied, in Warschau zu studieren, kam ich 1965 in ein Studentenheim, das mitten im ehemaligen Ghetto lag. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass es sich um eine kontaminierte Landschaft handelt: Dort wurde einfach über die Toten gebaut. Das ging gar nicht anders. Mein Vater war 1944 mit dem von ihm befehligten Sonderkommando auch in Warschau. Vor zwei Jahren habe ich das näher recherchiert, da kam heraus, dass er an schrecklichen Verbrechen beteiligt war. Für mich unbegreiflich ist, dass ich nur 21 Jahre später nach Warschau gehen konnte. In die Stadt, in der mein Vater an der Niederschlagung des Aufstandes beteiligt war. Ich habe dort polnische Literatur studiert. Das ist für mich ein Hinweis, wie sehr sich unsere Welt verändert hat, wie kraftvoll unsere europäische Kultur ist. 21 Jahre sind keine Zeit! Ich bin Schritt für Schritt in die Geschichte hineingegangen und immer wieder auf das Thema gestoßen, oft buchstäblich, wie etwa auf eine Gabel der Waffen-SS, die ich in meinem Garten in Bocksdorf gefunden habe.

STANDARD: Sie machen klar, dass Verschweigen und Vergessen ein Ausdruck tiefer Verachtung ist. In Ihrem Buch wird aber auch klar, dass solche kontaminierten Orte nicht zur Ruhe kommen. Warum?

Pollack: Ich möchte nicht esoterisch werden und sagen: Dieser Ort hat eine böse Aura oder Ähnliches. Aber meist umgeben solche Orte Gerüchte. Es wird gemunkelt. Da ist etwas. Irgendwann bricht die Geschichte dann auf. Wir alle wissen, wie wenig Sinn es macht, etwas zudecken zu wollen. Oft gibt es noch Augenzeugen, die als Kinder etwas mit angesehen haben.

STANDARD: Wie reagieren Menschen, wenn sie erfahren, dass sie auf einem Massengrab leben?

Pollack: Ich habe das in der Ukraine erlebt. Die Menschen wissen, was da passiert ist, aber sie sagen: Hier wohne ich. Ich will nicht täglich an die Toten erinnert werden. Wenn Sie heute nach Auschwitz kommen, sagen viele: Lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe hier mein Eisgeschäft, ich verkaufe Schuhe etc. Die toten Juden gehen mich nichts an. Hier wachsen meine Kinder auf, die können nicht unter dieser schwarzen Wolke leben. Aber sie müssen es.

STANDARD: Es gibt eine Diskrepanz zwischen offiziellen Erinnerungsstätten und kontaminierten Landschaften, die bis heute totgeschwiegen werden.

Pollack: Es gehört zu unserer Gesellschaft, dass wir überall dort, wo sich etwas ereignet hat, ein Denkmal errichten. Helden- und Kriegerfriedhöfe haben eine eigene Ästhetik. Das ist unsere offizielle Form des Umgangs mit der Vergangenheit. Wir wollen an die Toten erinnern. Aber viele andere Tote, die in den kontaminierten Landschaften liegen, werden bewusst verdrängt und vergessen.

STANDARD: Ist es zulässig, verschiedene Orte, Ereignisse, Täter und Opfer in eine Reihe zu stellen?

Pollack: Das ist die Frage. Wer sind wir heute, die wir sagen: Derer dürfen wir gedenken und derer nicht. Wir sollten imstande sein, alle Geschichten zu erzählen, alle Opfer zu erwähnen.

STANDARD: Ihr Buch wartet mit vielen schrecklichen Zahlen auf. Wie kommt man zu Schätzungen?

Pollack: Für mich sind Zahlen nicht so wichtig. Es gibt diese ewige Diskussion um die sechs Millionen Juden, die im Holocaust umgekommen sind. Da wird immer noch gefragt: Waren es wirklich so viele? Waren es nicht vielleicht nur vier Millionen? Nur vier Millionen! Oft klaffen die Zahlen auseinander, etwa bei Kuropaty in der Nähe von Minsk: Offiziell ist von 7000 Toten die Rede, die Opposition spricht von bis zu 300.000. Zahlen sind letzten Endes irrelevant. Es ist unerheblich, ob in einem Grab zehn Menschen liegen oder hundert. Wurden im burgenländischen Rechnitz 180 oder 210 Juden erschossen, die man bis heute nicht gefunden hat? Es kommt darauf an, dass man sich der Geschichte stellt, egal, um wie viel Opfer es sich handelt.

STANDARD: Ungeheuerlich fand ich Ihre Beschreibungen von Grabräubertum ...

Pollack: ... es gab noch während des Kriegs ganze Kompanien, die nichts anderes gemacht haben. Im Moment des Rückzugs wurden die Gräber, die vorher zugeschüttet wurden, wieder aufgemacht, um die Leichen zu verbrennen. In vielen Regionen, wo es Massengräber gibt, ist es zu Plünderungen gekommen. Der Historiker Jan Tomasz Gross hat einen Essay ("Goldene Ernte", Anm.) dazu geschrieben. Die lokale Bevölkerung in Treblinka hat das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers förmlich mit Schaufeln und Spitzhacken durchwühlt, um Kostbarkeiten der ermordeten Juden zu finden. Da herrschte eine echte Goldgräberstimmung, da wurden Leute reich. Wenn man mit jüdischen Nachfahren redet, die in die Ukraine reisen, sagen manche: Wir wollen kein Denkmal über dem Massengrab errichten, sonst beginnt gleich jemand zu graben.

STANDARD: Auch wir leben in solchen Landschaften. Wie sehen Sie den Umgang damit in Österreich?

Pollack: Vor Jahren habe ich bei einer Gedenkveranstaltung in Rechnitz eine Rede gehalten. Der junge Bürgermeister, der die Veranstaltung besuchte, saß mir nachher im Gasthaus gegenüber. Er hat kein Wort mit mir gesprochen. Diese Prozesse brauchen Zeit. Es ist schwierig für Menschen, sich mit diesen Dingen abzufinden. Aber Verschweigen ist kein Ausweg: Rechnitz ist zum Symbol für schuldhaftes Totschweigen eines Verbrechens geworden.

STANDARD: Am Ende Ihres Buchs sagen Sie:"Wir sind erst am Anfang!" und plädieren für ein Landkarte der kontaminierten Landschaften.

Pollack: Natürlich ist das eine Metapher, aber wie Karl Schlögl in Im Raume lesen wir die Zeit sagt: Alles kann verkartet werden! Warum nicht auch diese Landschaften? Was spricht dagegen, sich topografisch damit zu beschäftigen. Zugegeben: Das ist unbequem. Aber es ist möglich. Ich habe einen burgenländischen Nachbarn, der heute noch genau weiß, wo 1945 die Toten gelegen sind. Wir müssen eine solche Landkarte nicht über alles drüberlegen, aber wir können ruhig beginnen, an ihr zu arbeiten. Gerade in Österreich, wo wir mit der Geschichte bis heute schlampig umgehen, würde das nicht schaden. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 22./23.2.2014)