Bild nicht mehr verfügbar.

Stephan Meuser: "Ohne die Straßenbewegung an ihrer Seite fehlt der parlamentarischen Opposition das wichtigste Druckmittel."

Foto: REUTERS/David Mdzinarishvili

Doch relativ überraschend kam es am Dienstag zur erneuten Eskalation in der Ukraine. Gespräche zwischen der Opposition und Präsident Wiktor Janukowitsch endeten vorerst ergebnislos, dafür droht Letzterer, "einen anderen Ton anzuschlagen". Auch in der EU hat man reagiert, Sanktionen angedeutet und für Donnerstag eine Sondersitzung der Außenminister anberaumt. Ukraine-Experte Stephan Meuser erklärt im derStandard.at-Interview, wie es zu den jüngsten Ausschreitungen kam, wer hinter den radikalen Demonstranten steht und welche Reaktion er von der EU erwartet.

derStandard.at: Wie kam es zu den jüngsten Ausschreitungen in Kiew?

Meuser: Am Dienstag fand zunächst ein friedlicher Demonstrationszug vom unteren Bereich Kiews - der Maidan liegt ja in einem Tal - hinauf in Richtung Regierungsviertel statt. Um etwa 10, 11 Uhr Ortszeit kam es zu einer ersten Eskalation, als Unbekannte Rauchgasgranaten in die Menge schossen, teilweise auch von Dächern aus. Beide Seiten unterstellen einander dahinterzustecken. Bedenkt man die Machtfülle und die bessere Organisation der Sicherheitskräfte, kann man davon ausgehen, dass das in irgendeiner Form von dieser Seite angefangen wurde.

Nach zahlreichen Straßenschlachten verschob sich der Mittelpunkt des Geschehens wieder hinunter zum Maidan. Spätestens da hätte ein Befehlshaber der Sicherheitskräfte in Deutschland oder Österreich gesagt, die Demonstration ist aufgelöst. Das wurde allerdings nicht gemacht, und das ist für viele internationale Beobachter ein weiteres Indiz dafür, dass eine entsprechende Befehlskette dahinterstecken muss. Man hätte nicht sämtliche Zelte auf dem Maidan oder das Haus der Gewerkschaft als letzten Stützpunkt der Demonstranten angreifen müssen.

derStandard.at: Wieso wurden ausgerechnet jetzt diese Ausschreitungen provoziert?

Meuser: In den letzten Gesprächen wurde über Verfassungsänderungen oder zumindest den Weg dorthin gerungen. In diese Phase platzte der Demonstrationszug hinein, die Regierung könnte sich also dadurch provoziert gefühlt haben. Den Zeitpunkt dafür kann man aber auch als ungeschickt bezeichnen, weil er der Gegenseite Futter geliefert hat.

Und dann wird auch vermutet, dass sich bei Präsident Janukowitsch oder seinem Umfeld die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass er einmal Stärke zeigen müsse. Das würde allerdings nicht in die Entwicklung der letzten Woche passen.

Außerdem gab es noch die Erwartung, dass Russland darauf hinwirken wird, Eskalationen während der Olympischen Spiele in Sotschi zu vermeiden. Das erwies sich nun als falsch.

derStandard.at: War es Kalkül von Janukowitsch, auf eine Radikalisierung der Proteste zu warten?

Meuser: Das ist leicht möglich. Auf jeden Fall gibt ihm das die Gelegenheit, sich bei seinen Leuten durch hartes Eingreifen als starker Anführer des Vaterlandes zu präsentieren.

In Janukowitschs Logik stärkt er außerdem seine Verhandlungsposition gegenüber der Opposition. Wenn er heute oder in den nächsten Tagen die Straßen Kiews geräumt hat, wovon ich ausgehe, dann hat er alles in der Hand und kann der Gegenseite ein paar Brosamen hinwerfen. Ohne die Straßenbewegung an ihrer Seite fehlt der parlamentarischen Opposition das wichtigste Druckmittel.

In einem langen Prozess könnte man dann über mögliche Verfassungsänderungen verhandeln, in dem Janukowitsch minimale Zugeständnisse machen wird. Dann könnte er das so lange hinauszögern, bis er sein Ziel erreicht, bis zum Ende der Legislaturperiode im März 2015 im Amt zu bleiben.

derStandard.at: Welche Optionen bleiben den Oppositionellen, um das zu verhindern?

Meuser: Sie haben sich bereits auf den Weg der Verfassungsänderungen eingelassen. Um nun glaubwürdig zu bleiben, dürfen sie diesen nicht verlassen. Sollte der Westen jetzt vollkommen überraschend doch mit einer Stimme sprechen und Janukowitsch unter Druck setzen, könnte das gleichzeitig den Druck von der Opposition nehmen, weiter mit diesem Mann zu verhandeln. Die bisherigen Reaktionen aus Brüssel und anderen europäischen Metropolen deuten aber nicht auf eine eindeutige Verurteilung Janukowitschs hin.

derStandard.at: Sie erwarten in Kürze die Räumung der Straßen Kiews. Werden sich die radikalen Demonstranten so einfach verscheuchen lassen?

Meuser: Der Zugang zu Kiew ist mittlerweile gesperrt. Möglich ist nun, dass mit dieser Abriegelungsstrategie fortgefahren wird und die Sicherheitskräfte Personen wie im Jänner auch in den Krankenhäusern aufspüren und verhaften. Eine Option für die Demonstranten könnte dann sein, aus dem Kiewer Untergrund heraus weiter aktiv zu sein.

Ein größeres Problem ist aber, dass aus dem Westen des Landes Übergriffe gemeldet werden, unter anderem auf Polizeistationen und Munitionslager. Auch eine Straße in Richtung Polen wurde bereits gesperrt. In dieser Region kann Janukowitsch maximal auf wenige ganz treu ergebene Polizeieinheiten setzen, bei allen anderen ist eine Verbrüderung mit den Demonstranten möglich. Und die Folgen daraus wären dann besonders schlimm.

derStandard.at: Wer steckt hinter diesen radikalen Demonstranten?

Meuser: In den letzten Wochen haben sich zur Überraschung aller mehrere Gruppierungen gebildet oder geoutet. Es gibt einerseits Samooborona, das bedeutet Selbstverteidigung, eine Gruppe, die sich während der Proteste formiert hat. Sie steht der rechtsextremen Swoboda-Partei sehr nahe. Dann gibt es die Bewegung "Rechter Sektor", die ursprünglich von zwei Mittelständlern gegründet wurde, um gegen die ihrer Meinung nach ungerechte Steuerpolitik zu protestieren. Diese Gruppe hat sich nun entweder gewandelt oder wurde von einigen sehr aktiven Demonstranten übernommen. Sie war in den letzten Wochen für einige Hausbesetzungen verantwortlich.

Beide Gruppen wurden erst in den letzten Wochen bekannt. Die Koordination übernahm der sogenannte Maidan-Rat, ebenfalls eine Ad-hoc-Bewegung. Auf dem Maidan überwiegen schwarz-rote Fahnen; nationalistische Farben, mit denen man sich in der Ostukraine meist nicht gefahrlos bewegen kann.

derStandard.at: Wie ist deren Verhältnis zu den parlamentarischen Oppositionsparteien? Janukowitsch fordert von den Oppositionsführern - bislang vergeblich -, dass sie sich von den radikalen Demonstranten distanzieren.

Meuser: Es ist ein eher lockerer Bund. Die drei Oppositionsparteien im Parlament sind schon sehr unterschiedlich, von liberal-zentristisch bis zu rechtsextrem. Diese neuen Gruppierungen stehen dann noch einmal rechts davon. Das ist also ein riesiges Spektrum, das hier abgedeckt wird. Das unter einen Hut zu bringen ist sehr schwierig. Der gemeinsame Nenner ist das Ziel, Janukowitsch zum Rücktritt zu bewegen. Weitreichende gemeinsame Pläne für den Fall, dass das wirklich einmal eintreten sollte, sind mir aber nicht bekannt. Das ganze Gebilde ist sehr fragil.

Was die fehlende Distanzierung betrifft: Die Oppositionsparteien brauchen diese Gruppierungen. Das sind die Leute, die bei Regen, Schnee, Kälte, Eis ausharren und die zweite Front neben dem Parlament aufmachen.

derStandard.at: Welche Rolle könnte die inhaftierte Julia Timoschenko spielen?

Meuser: Ihre Partei hat sie nach Meinung vieler auch nach zwei Jahren im Gefängnis voll im Griff. Rein hypothetisch könnte ein Aufruf zu Frieden von ihr die Wogen glätten. Es ist aber schwierig, sie einzuschätzen. In den letzten Wochen meinte sie einmal, es geht nicht um mich, sondern um das Land. Dann wiederum sagt sie, dass man nicht mit Gaunern verhandeln und mit ihnen in eine Regierung eintreten soll. Das ist nicht stringent. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 19.2.2014)