Victoria Kumar: "In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden". Clio, Graz 2013

Cover: Clio

"Alles in der Emigration ist zu ertragen; das einzige Zimmer, die Kälte, die Einschränkungen, die Arbeitslosigkeit, die Fremdheit, die Polizei sogar, nur nicht die Demütigungen, die Nichtachtung, das Untergehen in einer Klasse von Menschen, die als Unglücksboten und Hilfsbedürftige gemieden, allenfalls bemitleidet, jedenfalls aber als peinliche Last empfunden werden."

Mit bitterer Klarsicht beschreibt der 1938 aus Graz geflüchtete und ebendort 1972 verstorbene jüdische Anwalt Ludwig Biró in seinen autobiografischen Aufzeichnungen den schleichenden Selbstwertverlust von Menschen, die zu Bettlern gemacht wurden. Seine Geschichte der Vertreibung, des Exils und der Rückkehr in seine Heimatstadt ist einer von 33 Berichten über Grazer Jüdinnen und Juden, die durch Flucht ihr Leben retten konnten.

Insgesamt 15 Vertriebene hat Victoria Kumar im Rahmen ihrer Doktorarbeit vor drei Jahren in Israel besucht. Viele Stunden hat sie mit ihnen über ihre Erinnerungen an das Leben in Graz vor und nach dem "Anschluss", ihre Flucht und den Aufbau des neuen Lebens in der Fremde gesprochen. Zu viel Material, um es in der Dissertation unterzubringen. Und zu interessant, um es sang- und klanglos in einem Archiv verschwinden zu lassen.

So entstand daraus das Buch In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden. Ein Glücksfall nicht nur für historisch Interessierte und Nachkommen der Vertriebenen, sondern auch für alle, die sich mit dem Thema Emigration und Asyl beschäftigen. Zum einen, weil es bisher kaum biografische Publikationen von und über vertriebene Grazer Juden gibt, zum anderen, weil die vorgestellten Lebensgeschichten einen unmittelbaren Eindruck von der Odyssee dieser Menschen und ihrem schwierigen (Über-)Leben unter völlig neuen Bedingungen vermitteln.

Entrechtung und Vertreibung

Wie haben sie, die damals noch Kinder waren, die Entrechtung und Vertreibung im Zuge des "Anschlusses" 1938 erlebt? Wie haben sie ihre Flucht und ihr wirtschaftliches Überleben in den verschiedenen Asylländern organisiert? Wie ist ihr heutiges Verhältnis zur alten Heimat? Um die Vielschichtigkeit der damaligen Geschehnisse und der Erfahrungen auf der Flucht und in der neuen Heimat rekonstruieren zu können, hat Kumar besonders prägnante Passagen aus den meist sehr langen Interviews und den wenigen vorhandenen (auto)biografischen Texten für das Buch ausgewählt.

Neben den 15 Biografien von nach Palästina geflüchteten Jüdinnen und Juden hat die Historikerin auch die Lebensgeschichten von Grazer Vertriebenen aufgenommen, die es damals in andere Teile der Welt wie Tansania, Schanghai oder die USA verschlagen hat. Für diese griff sie auf Berichte von Kollegen und diverse Datenbanken zurück. Ihr Jahr in Israel finanzierte sich Kumar über ein Stipendium des Wissenschaftsministeriums als Doctoral Research Fellow am Center for Austrian Studies der Hebrew University in Jerusalem.

Keines ihrer Transkripte der jeweils mehrstündigen Gespräche ist kürzer als 40 Seiten. "Fast alle meine Interviewpartner und -partnerinnen haben das erste Mal außerhalb ihres Familien- und Freundeskreises so ausführlich über diese Erlebnisse gesprochen", sagt Victoria Kumar. "Das war für die Menschen emotional eine große Herausforderung, da viele furchtbare Erinnerungen wieder hochkamen."

Aufgenommen wurde sie von allen herzlich, und nicht selten drückte sich die Sehnsucht der Ausgewanderten nach ihrer alten Heimat auch auf kulinarische Weise aus: "Als ich Batja Tuchendler in Haifa besuchte, gab es Wienerschnitzel mit Kartoffelsalat und zur Nachspeise Apfelstrudel", berichtet die am Centrum für Jüdische Studien Graz tätige Historikerin von einem Besuch bei der rüstigen, damals 85-jährigen Dame.

Gespaltenes Verhältnis

An das Jahr 1938 konnte sich Tuchendler noch gut erinnern: "Man war von heute auf morgen ein Nichts geworden. Was einem geblieben war, ist der Name Jude, das war es!" Graz hat sie viele Jahre später gemeinsam mit ihrer ebenfalls nach Palästina ausgewanderten Schwester Laura dennoch mehrmals besucht. "Ich liebe Österreich!", sagt Laura im Interview. "Ich liebe die Landschaft! (...) Nicht die Menschen!" (Doris Griesser, DER STANDARD, 19.2.2014)