Seit Michel Foucault in seinen späten Untersuchungen über das Verhältnis von Sexualität und Wahrheit die antike Lebenskunst wiederentdeckte, hat diese Konjunktur. Foucault war fasziniert davon, dass die klassische Antike keine Unterdrückung oder Strangulierung der Triebe und Begierden gelehrt, sondern einen bewussten, gestalteten, ästhetischen "Gebrauch der Lüste" vorgeschlagen hatte.

In der späten römischen Antike, unter dem Einfluss der stoischen Philosophie, mutierte dieses Konzept der Lebenskunst immer mehr zu einem Programm der "Sorge um sich", das sich mit seinen Vorschriften zur Gesundheit, mit seinen Diätvorschlägen und seiner Bemühung um das seelische Gleichgewicht tatsächlich wie eine Antizipation gegenwärtiger Fitness- und Therapiekulturen liest.

Die im Anschluss an Foucault vor allem von Wilhelm Schmid konzipierte, höchst erfolgreiche Philosophie der Lebenskunst arbeitet also an der Wiedergewinnung eines ästhetischen Verhältnisses des Menschen zu sich und seinen Lebensentwürfen. Nicht abstrakte und rigorose Moralgrundsätze sollen das Leben regeln, dieses soll aber auch nicht unter dem Diktat unreflektierter Begierden und Triebe stehen.

Die in der Antike, vor allem bei Aristoteles zentralen Ideen des Maßes und der Angemessenheit erleben in diesem Zusammenhang eine interessante Renaissance. Die hedonistische Moderne interpretiert sich gerne als maßlos, ekstatisch, voll rauschhafter Dynamik, von einer Erregung zur anderen taumelnd, einfach nicht zu bremsen. Das Konzept der Lebenskunst hält daran fest, dass ein gutes Leben ein geformtes Leben sein muss und dass Formung immer bedeutet, Maß zu halten, die Dinge in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen, weder sich noch anderen gegenüber überzureagieren, aber auch nicht gleichgültig zu bleiben.

Vor allem im Zusammenhang mit den aus diesen Gründen wieder aktuell gewordenen Lehren der Stoa sollte aber daran erinnert werden, dass in diesen die Kunst des Lebens - die "ars vivendi" - untrennbar gebunden war an eine andere Kunst - an die "ars moriendi", die Kunst des Sterbens. Damit war nicht eine schwülstige Todessehnsucht gemeint, sondern die Einsicht, dass das Sterben ein letztes Moment des Lebens ist, das als solches zur Kenntnis genommen und in die Bemühungen um ein schönes Leben in Freiheit aufgenommen werden muss.

Eine Gesellschaft wie die unsrige, die es allenthalben zu einer Synchronizität von Todesverdrängungen und Todesfabriken gebracht hat, täte vielleicht gut daran, sich dieser Konzeptionen zu erinnern.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17. 8. 2003)