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Margit Schreiner:
Heißt lieben
€ 19,50/164 Seiten. Schöffling & Co, Frankfurt 2003.

Foto: Archiv
Am Ende bringen wir unsere Mütter um, weil wir nicht mehr lügen wollen." Schon der erste Satz ihres jüngsten Buches "Heißt lieben" beweist, dass Margit Schreiner wohl zu Recht seit ihrem Debüt "Die Rosen des Heiligen Benedikt" als Spezialistin für Liebes- und Hassgeschichten - so der Untertitel - gilt.

Aber keine Angst, die in Linz geborene und seit einigen Jahren wieder in ihrer Geburtsstadt lebende Autorin erzählt uns auch diesmal von keinem Mord, schon gar nicht von einem Muttermord. Vielmehr richtet sie ihren mitleidslosen Blick auf familiäre und gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Mütter das Erwachsenwerden ihrer Töchter verhindern, anstatt zu befördern, bis diese Töchter schließlich kapitulieren und wieder Ehefrauen und Mütter werden. Diese Töchter müssen erkennen, dass sie wie ihre Mütter sind. Sie hängen an ihren Fantasien über die Liebe, gleichermaßen in ihrer Literatur wie im Leben.

Die drei Texte des Buches heißen deshalb folgerichtig Tod, Hochzeit, Und eine Geburt, und genauso folgerichtig plädiert die Ich-Erzählerin am Ende für die Verabschiedung der Liebesmythen: "Aber mein Kopf hat es satt. Er will seine Ruhe haben: Schluss mit Liebe und Tod!"

Doch so einfach ist das nicht, und so trügt auch die Einfachheit der frechen und manchmal grotesken Geschichten, in denen Margit Schreiner nicht selten erstaunt und ironisch mit Vorliebe aus scheinbar naiver Kinderperspektive auf die Welt blickt, ohne die erwachsene Ich-Erzählerin zu leugnen. So schonungslos wie nie zuvor ergründet sie in Heißt lieben die autobiografische Grundierung ihres Schreibens.

Bevor als Abschluss einer Trilogie der Trennungen die Mutter ins Visier der Auseinandersetzung kommt, erinnert sich in Nackte Väter eine Tochter nach dem Tod des Vaters an unbeschwerte Kindheitserlebnisse und an das langsame Sterben des neunzigjährigen Mannes, der an Alzheimer erkrankt ist. Der Roman ist eine völlig unsentimentale und dennoch liebevolle Hommage an den eigenen Vater - ein verstörendes Buch in bestem Sinne, nicht zuletzt deshalb, weil es der Autorin gelingt, vor allem körperliche Lebenserfahrungen ohne Scheu vor Peinlichkeiten und Tabubrüchen zu beschreiben.

Als eine literarische Qualität hat Margit Schreiner in ihrem Essay Frauen verstehen keinen Spaß (Profile, 9, 2002) an von ihr geschätzten Autorinnen wie Djuna Barnes, Marguerite Duras oder Gina Kaus eine "neue Schamlosigkeit" attestiert und damit auch ihr eigenes Schreiben trefflich charakterisiert. Genauso schamlos, wie Schreiner das Sterben des Vaters und der Mutter beschreibt, erzählt sie im letzten Teil von Heißt lieben von der qualvollen Geburt der eigenen Tochter.

In ihrem Roman Haus, Frauen, Sex. entstellt sich in einer brillanten Rollenprosa ein verlassener Ehemann in der Abrechnung mit seiner Resi, die bisweilen alle Weiber einschließt, zur Kenntlichkeit. Margit Schreiner führt vor, wie sich in einem Monolog ohne Gegenrede die Spirale der eigenen Welterfahrung weiterdreht und jede Wahrnehmung des anderen als eigenständige Person unmöglich macht.

Und genau das interessiert sie auch in ihrer neuen Prosa. Es geht um nichts mehr und nichts weniger als die Erfindung der Liebe und die Unterwerfung anderer Menschen unter diesen Entwurf. Naturgemäß stößt man dabei auf die Mutterliebe. Und diese seziert sie im zweifellos gelungensten ersten Text ihres Buches Heißt lieben auf ebenso präzise wie lakonische Weise. "Unsere Mütter können andere Menschen nur wahrnehmen, nachdem sie sich die Menschen einverleibt haben. (...) Wir sind als Kinder auf diese Weise aufgewachsen: als eine Vorstellung unserer Mütter. Natürlich haben wir ständig vor unseren Müttern davonlaufen müssen, um nicht verrückt zu werden."

Margit Schreiners Kindheitsjahre waren die bleiernen Fünfziger- und Sechzigerjahre, in denen die Mütter und Hausfrauen mit ihrem großen Register von Double-Bind-Aussagen ihre Kinder zeitlebens erpressen, weil diese immer alles falsch machen müssen. Erzähltechnisch gekonnt verallgemeinert Margit Schreiner durch die beinahe durchgängige Wir-Perspektive, aus der sie nur selten in die Ich-Perspektive wechselt, ihre individuelle Erfahrungen, ohne ihre Position als Tochter zu verlassen. Die Erzählerin diagnostiziert eine "Wahrnehmungsstörung" der Mütter.

Das Ausgangsszenario des Buches entwirft die tragikomischen Szenen eines letzten gemeinsamen Weihnachtsfestes, bei dem ein dreimaliger Notarzteinsatz notwendig ist, ehe die Tochter wieder abreist, um nur wenige Tage später zurückzukehren, weil die schon lange an Hepatitis C erkrankte Mutter im Krankenhaus gelandet ist und von dort in ein Pflegeheim gebracht werden muss. Mehrere Monate lang kehrt die Tochter immer wieder in ihre Heimatstadt zurück und begleitet die sterbende Mutter: "Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben."

Im zweiten, nicht völlig überzeugenden Text des Bandes reflektiert die Tochter, die nach dem Tod der Mutter nach Italien übersiedelt, ihre eigenen Erfindungen der Liebe. Als fremde Besucherin erlebt sie die katholische Zeremonie einer italienischen Dorfhochzeit wie ein Schauspiel, muss sich jedoch ihre Rührung vor der Szenerie eingestehen, in die sich noch sentimentale Erinnerungen an eine erste pubertäre Sommerliebe und die erste Menstruation mischen. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach dem idealen Geliebten und der lange Weg zum Erwachsenwerden.

Margit Schreiner zeichnet in ihrem Buch Heißt lieben gnadenlos die Spuren der Unfähigkeit zu lieben nach und plädiert trotz alledem für eine Fortsetzung der Liebesversuche. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.8.2003)