Schadenfreude, ein in andere Sprachen schwer übersetzbares Wort, ist derzeit im Umlauf, wenn es über die jüngste schweizerische Volksabstimmung geht. Im nachbarlichen Schlagabtausch tut ein bisserl Boshaftigkeit gegen die noch reicheren Nachbarn und ihre provinzielle Arroganz gut.

Abgesehen von der Problematik solcher Häme stellt sich indes die Frage, ob die Freude über die kontraproduktive Xenophobie der "Satten" nebenan nicht verfrüht ist, gibt es doch diese Sorte von "Schweizern" überall in Europa, in Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien und natürlich auch im Haus Österreich.

Das Schweiz-Syndrom ist angesichts der vielen strukturell Geistesverwandten, die Herr Blocher in Wohlstandseuropa hat, längst unser eigenes geworden.

Abwehrschlacht

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Nationalismus, der nach seinen ersten politischen Auftritten in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts das kurze zwanzigste Jahrhundert überdauert hat, sich als ernstzunehmender politischer Faktor zurückgemeldet hat. Neu ist im reichen Westen des Halbkontinents, dass er sich nicht nur als politisches Projekt derer zu Wort meldet, die marginalisiert sind oder mit ihrer Marginalisierung spielen, sondern auch als eine Abwehrschlacht privilegierter Gruppen, die von der Vorstellung leben, ohne die armen Nachbarn innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen würde es ihnen ungleich besser gehen.

Zum Erstaunlichsten des nationalen Freiheitsversprechens gehört nämlich die Vorstellung, dass alles besser würde, wenn es nicht die Fremden "da oben" oder auch "dort unten" gäbe. Nationalismus bedeutet programmatisch wie kontrafaktisch Freiheit vom Fremden, der in der Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft als Störenfried und Sündenbock dient, ob es nun überfüllte Züge oder hohe Mieten oder sonst etwas sind.

Es ist kein Zufall, dass die neuen hässlichen Fremden in der Schweiz nicht mehr (nur) Muslime, sondern zunehmend die europäischen Nachbarn, Deutsche, Österreicher, Franzosen und Italiener, sind. 2010 startete die Tessiner Schweizerische Volkspartei (SVP) eine rassistische Kampagne mit dem Slogan "Bala i Ratt" (Rattentanz). Grenzgängerische Ratten, bekleidet mit T-Shirts in italienischen und europäischen Farben, nagen auf Plakaten am Schweizer Käse.

Die Produktion von ethnischer Aggression hat eine Eigendynamik, und am Ende kann ein Fremder auch der sein, der die gleiche Sprache spricht. Habgier und Heimatseligkeit fügen sich, um beim Rattentanz zu bleiben, zu einem rabiaten Gemisch zusammen: Fast 70 Prozent der Tessiner haben für das SVP-Volksbegehren votiert.

Man darf gespannt sein, ob Herr Strache und seine soziale Heimatbewegung, die Erben der deutsch-völkischen Bestrebungen, uns in Zukunft - ganz nach Schweizer Vorbild - vor den Deutschen schützen werden.

Heimat ist an dieser Stelle ein Schlüsselwort, weil diese Art von enger Zugehörigkeit einen hohen affektiven Wert hat. In den 80er-Jahren erfuhr sie unter dem Eindruck der Ökologiebewegung ("Small is beautiful") eine positive Umwertung, weil sie etwa soziales Vermögen miteinschließt. Metapolitisch ist es an der Zeit, Heimat, diese scheinbar natürliche Identität, neu zu fassen, als einen Ort freiwilligen Zusammenschlusses von Menschen, die ganz unterschiedliche Herkünfte haben können.

Zur Heimat müssen und sollen - paradox formuliert - heutzutage die Fremden dazugehören, die tendenziell damit aufhören, solche zu sein.

Wie kann Politik, vor allem jene Metapolitik, die aus der Gesellschaft kommt, auf rabiate Xenophobie antworten? Ganz bestimmt nicht durch vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Wilders, Blochers, Straches und Le Pens, und auch nicht nur durch eine Form von "romantischer" Xenophilie, die nur die andere Seite der fremdenfeindlichen Medaille darstellt. Der Verweis, dass die vielen auch jungen Menschen, die in die wohlhabenden Länder Europas einwandern, mehr Probleme lösen als schaffen, wird xenophobe Menschen kaum beeindrucken.

Überforderte Menschen

Ernst zu nehmen ist der Umstand, dass es bei uns Menschen gibt, die von dem kulturellen Wandel, der mit unvermeidlicher Migration einhergeht, überfordert sind. Die Fortdauer des Nationalismus als einer quasireligiösen Verfassung hat damit zu tun, dass manche kulturellen Veränderungen äußerst langsam vonstattengehen. Meinungen lassen sich ändern, aber Nationalismus, das ist ein kulturelles Phänomen, das affektiv und in den Körpern von Menschen verankert ist.

Die europäische Politik muss den Fehdehandschuh aufheben, den ihr die Blochers in der Schweiz und Europa vor die Füße geworfen haben. Dies kann nur mit einem Konzept von europäischer Solidarität geschehen, das das nationale Wir zuerst übersteigt. Das impliziert die offensive Stärkung der Idee, den Schwächeren vermehrt zu helfen: Individuen, Gruppen, Regionen, aber auch bestimmten Mitgliedsländern innerhalb eines gemeinsamen Raums.

Gut möglich, dass einige EU-Länder dem Schweizer Beispiel folgen und diesen verlassen würden. Aber das ist weniger riskant, als ohnmächtig zuzusehen, wie bestimmte neonationale Politiken von Blocher bis Cameron scheibchenweise die europäische Integration zerlegen.

Ein Lehrstück

Die Schweizer Volksabstimmung, wahrlich nicht die erste skandalöse, ist ein gutes Lehrstück, wenn wir den Befürwortern der direkten Demokratie folgen würden. Ständig würde die Politik von Volksabstimmungen vor sich her getrieben. Politiker müssen Entscheidungen exekutieren, die sie für falsch, schädlich oder unverantworlich halten.

Dieses Spiel hat zwei Akteure, die Biedermänner und -frauen, die Wutbürger, die von der Angst vor Heimat- und Besitzverlust angetrieben sind, und die Brandstifter, die, wie im Falle des Plebiszits in der Schweiz, genau wissen, was sie tun: die europäische Integration unterlaufen und rückgängig machen. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD, 15.2.2014)