Ein Moment, in dem die Gegenwart zur reinen Empfindung wird: ein Junge, ein Mädchen, ein diffuses Gefühl wechselseitiger Anziehung. Die letzte Einstellung wirkte noch nach, da brauste im Berlinale-Palast schon der Jubel auf. Es war der sehnsüchtig erwartete Befreiungsschlag in einem insgesamt recht durchschnittlichen Jahrgang: Richard Linklaters Boyhood weist einen Reichtum szenisch verdichteter Lebensmomente auf, die über das Werk noch hinwegstrahlen. Der Film ist der große Favorit für den Goldenen Bären, der am Samstagabend vergeben wird.

Die Freude an der Langzeitbeobachtung, die Sensibilität für jugendliche Lebenswelten: Das sind vertraute Qualitäten des Texaners, und doch gelingt ihm mit Boyhood ein Sprung in eine andere Dimension. Seit 2002 hat Linklater mit seinem Ensemble an dieser fiktiven Erzählung vom Aufwachsen in Suburbia gedreht. Gefilmt wurde jedes Jahr nur ein paar Tage lang: Mason (Ellar Coltrane), die zentrale Figur, ist zuerst ein kleiner Bub - am Ende wird er zum etwas verträumten College-Studenten herangewachsen sein. Was andere Filme vermöge mehrerer Darsteller lösen, gelingt hier profunder: mit einem dokumentarischen Kern im Erfundenen.

Boyhood begeistert mit Szenen, in denen Momente des Heranwachsens zur universellen Erfahrung gebündelt werden: Dabei ist die Geschichte von Mason und seiner Schwester Samantha (gespielt von Linklaters Tochter Lorelei) profan wie das Leben selbst. Die Eltern (Ethan Hawke und Patricia Arquette) sind schon zu Beginn kein Paar mehr; kurz erweitert sich die Familie zum Patchwork, dann wagt die Mutter den Schritt ins Berufsleben; der Vater tauscht sein Herumtreiberdasein gegen eine bürgerliche Existenz.

Das Wesentliche vollzieht sich jedoch, vermittelt durch hellhörige Dialoge und farbige Situationen, fast nebenbei: Man wird zum stillen Familienmitglied, sieht, wie Mason reift, sich mit seiner Umwelt, den eigenen Ansprüchen auseinandersetzt; ein fließender Prozess, in dem Zeitgeschichte - Irakkrieg, Facebook, Obama - Spuren hinterlässt. Linklater vollbringt sehr Kostbares: Er hält das Verrinnen der Zeit fest, indem er eigene Erinnerungen schafft.

An der Peripherie von Wien

Auch in Macondo, der einzigen österreichischen Produktion im Wettbewerb, steht ein Bub im Zentrum; er ist vor ein paar Jahren mit seiner Familie aus Tschetschenien nach Wien gekommen, wo er neben anderen Flüchtlingen in der Macondo-Siedlung lebt. Die iranisch-österreichische Regisseurin Sudabeh Mortezai gibt mit dieser Milieustudie, die von ihrem Darsteller und der mobilen Kameraarbeit Klemens Hufnagls profitiert, ihr Spielfilmdebüt.

Ihre Vergangenheit als Dokumentaristin bleibt in der Arbeit mit Laien an realen Schauplätzen sichtbar: Überzeugender als die Erzählbahnen des Buben, der sich seiner Geschichte und den Herausforderungen einer Jugend in Spielhöfen stellt, erscheint der Blick auf die Wiener Peripherie: ein Leben zwischen Betonfassaden, wilden Gärten voller Plunder und gestapelten Containern. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 15./16.2.2014)