Die Gegend ist herb. Im Nordosten, jenseits der Weichsel und fernab vom nach wie vor prächtig gedeihenden Finanzzentrum, präsentiert sich ein Warschau, von dem in Architektur- und Immobilienkreisen sonst nur wenig zu hören ist. Abgewrackte Werkstätten, kaputt gefahrene Garagen und halb auseinanderfallende Einfamilienhäuser prägen das Stadtbild. Und immer wieder lauern im Asphalt regenwassergefüllte, unkrautbewachsene Schlaglöcher wie zu Jaruzelskis Zeiten.

Bild: Einfamilienhaus in Warschau, geplant von Marcin Kwietowicz.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Inmitten dieses leicht apokalyptischen Viertels wohnt die polnische Künstlerin Monika Sosnowska. Bereits auf der Biennale di Venezia 2007 und in der Serpentine Gallery in London war sie mit ihren riesigen, weit um sich greifenden Raumstrukturen zu sehen. Die Auseinandersetzung mit dem Medium Raum macht sich auch in ihrem eigenen Wohnhaus bemerkbar.

Bild: Einfamilienhaus in Warschau, geplant von Marcin Kwietowicz.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Nicht in einem einzigen Gebäude ist sie zu Hause, sondern in vier auseinander dividierten Wohn- und Arbeitseinheiten, die scheinbar planlos über das Grundstück verteilt sind. Nach außen hin gibt sich das minimalistische Gebäudequartett grau und abweisend. Das Leben findet im Inneren statt. Auch wenn man dazu im Winter schon einmal Gummistiefel und Daunenjacke anziehen und über verschneite Schotterwege laufen muss.

Bild: Einfamilienhaus in Warschau, geplant von Marcin Kwietowicz.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

"Ich bin mir dessen bewusst, dass das kein Haus für jedermann ist", sagt der Warschauer Architekt Marcin Kwietowicz. Gemeinsam mit seinem Partner Piotr Brzoza ist er für den Entwurf und die Realisierung dieses ungewöhnlichen Einfamilienhauses zuständig. "Es ist ein Haus, das wir der Bewohnerin auf den Leib geschneidert haben und das ihren ganz persönlichen Vorstellungen von Wohnen und Arbeiten entspricht. Endlich sind wir, 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in der Lage, Architektur nach freiem Ermessen und nach unseren eigenen Maßstäben von Sinnhaftigkeit und innerer Intelligenz zu entwerfen."

Bild: Einfamilienhaus in Warschau, geplant von Marcin Kwietowicz.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Ein viertel Jahrhundert nach Beginn der Dritten Republik präsentiert das Architekturzentrum Wien (AZW) die Ausstellung "Zum Beispiel. Das neue polnische Haus". Die kleine, aber mit hübschen Modellen und dramatischen Fotos bestückte Wanderausstellung, die bereits in Warschau, Wrocław und Berlin zu sehen war und seit Donnerstag nun auch im Museumsquartier gastiert, widmet sich dem Phänomen des polnischen Einfamilienhauses.

Bild: Einfamilienhaus von jojko+nawrocki architekci.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Und zwar nicht dem aus dem Katalog, und auch nicht dem mit Türmchen, Sphinxen und Alabasterbalustraden geschmückten Zuckerbäckerpalästchen, das in Anlehnung an die Zeichentrickserie "Die Schlümpfe" in Polen so liebevoll "Gargamel" genannt wird, sondern dem neuen, dem emanzipierten, dem aus dem Bedarf heraus entstandenen, das nicht nur Statussymbol und Fassade, sondern in erster Linie Resultat eines intensiven Entstehungsprozesses zwischen Architekt und Bauherr ist.

Bild: Einfamilienhaus, geplant von Grzegorz Stiasny.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

"Eigentlich würde man annehmen, dass das eine Selbstverständlichkeit ist", meint Architekt Kwietowicz. Sein graues Einfamilienhaus, eine Low-Budget-Konstruktion aus Leichtbeton und Ytong, ist eines von insgesamt neun Projekten, die in der Ausstellung zu sehen sind. "In Wahrheit jedoch ist gute Architektur in Polen noch lange keine Selbstverständlichkeit. Zwar hat sich seit dem Kommunismus viel getan, doch was die Baukultur betrifft, so sind wir - das muss man ehrlich zugeben - ein Entwicklungsland, das noch einen langen Weg vor sich hat."

Erst der BMW, dann das Haus

Die Ausstellung solle dabei helfen, diesen Entwicklungsprozess, über den man im Ausland kaum Bescheid weiß, etwas zu beschleunigen, meinen die beiden Kuratorinnen Aleksandra Stępnikowska und Agnieszka Rasmus-Zgorzelska. Vor drei Jahren gründeten die beiden Damen das Warschauer Centrum Architektury, in dem nun Ausstellungen gezeigt und auch schon mal Le Corbusiers Schriften oder Adolf Loos' Ornament und Verbrechen erstmals in polnischer Sprache herausgegeben werden.

Bild: Einfamilienhaus, geplant von Robert Konieczny und Łukasz Marciniak.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

"Polnische Architektur ist sehr präsent, aber nur, solange es um Moderne und Sozialrealismus bis 1989 geht", sagt Stępnikowska. "Über die Gegenwart hingegen erfährt man nur wenig. Das möchten wir ändern." In der Tat sei zeitgenössische polnische Architektur noch ein sehr junges Phänomen, denn die ansehnlichen, clever konzipierten Bauwerke ließen lange auf sich warten.

"Nach 1989 sind viele Menschen sehr rasch zu Geld und Eigentum gekommen, und dieser Reichtum musste sich natürlich entsprechend manifestieren - nicht nur in der Kleidung und im neuen BMW in der Einfahrt, sondern auch an der Fassade", erklärt Stępnikowska. "Die baulichen Resultate dieser Ära sind bis heute zu sehen. Überall im Land stehen hässliche Gargamels herum."

Bild: Einfamilienhaus, geplant von Robert Konieczny und Łukasz Marciniak.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Einerseits sei die "formale Hypereuphorie" (O-Ton Agnieszka Rasmus-Zgorzelska) im aufkeimenden Kapitalismus zwar nachvollziehbar, andererseits aber erfreue man sich an der Tatsache, dass der Trend der überambitioniert ornamentierten Aphrodite's Castles, Knight's Palaces und wie die stets ohne Architekten geplanten Eigenentwürfe nicht alle heißen mögen, allmählich wieder zurückgeht.

An ihre Stelle tritt das neue, individuelle, maßgeschneiderte Einfamilienhaus, das sich im internationalen Kontext - das beweist die Ausstellung im AZW - durchaus behaupten kann. Wiewohl sich die Zahl der gebauten Lichtblicke vorerst noch in Grenzen hält. Das monatliche Fachmagazin Architektura-Murator schafft es, pro Jahr gerade mal zehn bis 20 herausragende Beispiele vorzustellen.

Bild: Einfamilienhaus, geplant von Robert Konieczny und Łukasz Marciniak.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Unter den vielfach gefeierten Einfamilienhäusern befindet sich auch das sogenannte Bolko Loft in Bytom. Przemo Łukasik, Chef des schlesischen Architekturbüros medusa group, suchte nach einem leistbaren Haus, wurde in einem stillgelegten Kohlebergwerk fündig und ließ dort ein ehemaliges Lampenlager sanieren, das er für 80.000 Złoty (knapp 20.000 Euro) erworben hatte. Wacker balanciert der Betonbau auf acht Meter hohen Betonstützen. Trotz Umbau ist der herbe industrielle Charme des Hauses erhalten geblieben.

Bild: Bolko Loft in Bytom, geplant von Przemo Łukasik vom Architekturbüro medusa group.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

"Als ich mit den Plänen auf die Baubehörde gegangen bin, haben mich die Beamten angeschaut wie einen Außerirdischen", erinnert sich Lukasik. "Da wollen Sie wohnen? Sind sie denn wahnsinnig?" Die Reaktion sei symptomatisch gewesen. Auf Wohnkonzepte, die vom Kataloghaus abweichen, reagieren viele Polen mit großer Verwunderung. Und das bis heute.

Wohnen im Kohlebergwerk

"Aber was soll ich sagen? Ich bin leidenschaftlicher Schlesier, ich liebe diese Gegend, und ich setze mich mit aller Kraft dafür ein, dass die Leute die baulichen Potenziale Polens erkennen", sagt Łukasik, der aus seinem Badezimmer direkt auf einen der alten Schachtlifte schaut. "Gerade hier, wo einst die Schwerindustrie Polens beheimatet war, gibt es heute viel Leerstand, den es zu nutzen gilt. Das ist nicht nur billiger als jeder Neubau, sondern vor allem auch ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Schließlich können auf diese Weise alte Industrieanlagen einer neuen Nutzung zugeführt werden."

Bild: Bolko Loft in Bytom, geplant von Przemo Łukasik vom Architekturbüro medusa group.

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury

Wie er die Entwicklung für die kommenden Jahre einschätzt? "Großartig! Was zeitgenössische Architektur betrifft, befinden wir uns gerade am Übergang vom Schock zum Standard. Eine spannende Zeit." (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Album, 15.2.2014)

Bild: Bolko Loft in Bytom, geplant von Przemo Łukasik vom Architekturbüro medusa group.

Service

Die Ausstellung "Zum Beispiel. Das neue polnische Haus" ist in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Institut Wien entstanden. AZW, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Bis 3. März. Danach wandert die Ausstellung nach Madrid und Prag weiter. Zur Ausstellung ist der Katalog "Na przykład. Nowy dom polski" erschienen. Polnisch und Englisch. € 16,00.

Links

azw.at

polnisches-institut.at

Foto: Juliusz Sokolowski / Centrum Architektury