Cao Siyuan (oben) setzt auf einen langsamen Wandel der Gesellschaft durch das Internet. 

Foto: Johnny Erling

Zum derzeitigen Frühlingsfest atmen die Pekinger wieder auf, dank einer Kaltfront, die den Smog geklärt hat. Auch der 68-jährige Cao Siyuan genießt seine Spaziergänge. Nicht nur wegen der frischen Luft. Wenn er morgens seine Wohnung im Nordwesten Pekings verlässt, beschattet ihn niemand mehr. Bis Anfang 2013 war das anders. Dann stoppte die Überwachung plötzlich.

In seiner Wohnung hat Cao auch seine 1988 gegründete Firma "Consulting für Konkursrecht und Firmenzusammenlegung" untergebracht. Sie trägt seinen Vornamen "Siyuan", er bedeutet "Quelle des Denkens". So riefen seine Eltern den Begründer der ersten privaten Wirtschaftsberatung Chinas. Unter anderem Namen war er einst in der Öffentlichkeit bekannt: Cao Pochan, "Herr Konkurs". Das war, als er im Planungsstab des Pekinger Staatsrats saß und mit dem sozialistischen Tabu brach, dass Staatsbetriebe nicht bankrottgehen dürfen. Nach acht Jahren Debatte verabschiedete der Volkskongress 1988 das erste Konkursrecht der Landes. Cao gilt als sein geistiger Vater.

Cao setzte sich dafür ein, dass der Schutz des Privateigentums in die sozialistische Verfassung geschrieben wurde. 2004 gelang das. "Es war einer der wenigen Durchbrüche unter allen bisherigen Änderungen." Aber da war Cao bei der Führung längst in Ungnade gefallen, nachdem er verlangt hatte, neben Wirtschaftsreformen auch umfassende politische Reformen in die Verfassung aufzunehmen.

Soeben hat Cao einen weiteren Vorschlag für eine neue Verfassung in Umlauf gebracht. In dem Entwurf, den er nur Online kursieren lassen kann, weil sich keine Zeitung traut, ihn zu drucken, gibt es auch einen Abschnitt zur Marktwirtschaft. Über sie heißt es: "Der Staat erkennt die entscheidende Rolle des Marktes bei der Regulierung der Wirtschaft an." Das Postulat könnte bald Eingang in die offizielle Verfassung finden: Denn im November sprach das ZK auf seinem Reformplenum erstmals von der "entscheidenden Rolle des Marktes" (siehe "Land der Mitte sucht goldenen Mittelweg".

Damit enden die Gemeinsamkeiten zwischen Cao und der KP. Seit 32 Jahren appelliert er als Einzelkämpfer an die Abgeordneten im Volkskongress, die Verfassung radikal zu reformieren, um sie einer modernen Gesellschaft anzupassen. Das Thema ist brisant.

Im September 2014 will Peking den 60. Gedenktag seiner 1954 verabschiedeten Verfassung feiern. Es möchte nicht hören, was Cao dazu zu sagen hat: Das Dokument blieb bis heute in weiten Strecken ein Fossil totalitären Denkens, obwohl inzwischen neben dem Eigentumsrecht auch der "Schutz der Menschenrechte" verankert wurde. Doch alle, die sich heute an ihr orientieren wollen, müssen zuerst den Spagat schaffen zwischen der festgeschriebenen, führenden Rolle der Partei und der Hoffnung, aus China einen Rechtsstaat zu machen.

Cao hat seine inzwischen neunte Fassung rechtzeitig zu der am 5. März beginnenden Parlamentssitzung in Umlauf gebracht. Er möchte die Präambel streichen, in der steht, dass sich China zur "volksdemokratischen Diktatur" bekennt. Auch der Begriff "Volk" passe nicht mehr in die heutige Zeit, weil er der Partei ermögliche zu bestimmen, wer zur Volksgemeinschaft gehört und wer ihr Feind ist. "Die Parteiführer nennen sich Diener der Volkes. Doch sind sie die einzigen Diener auf der Welt, die sich das Volk nicht selbst auswählen darf."

Volle Gefängnisse

Die Gefängnisse sind voll von Dissidenten, die verlangt haben oder wollten, dass die Diener Rechenschaft über ihren Besitz ablegen. Solche Versuche, die sich auf Verfassungsgebote wie Versammlungs- und Redefreiheit stützen, wertet die politische Elite Pekings als Versuch, sie ihrer Alleinherrschaft zu berauben.

Cao setzt darauf, dass sich dank Internets die Gesellschaft trotz vieler Rückschläge verändert. "Ich bin oft gegen Mauern geprallt. Ich mache weiter, auch wenn ich mir dabei schon hundert Mal dicke Beulen geholt habe." (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 10.2.2014)