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"Wir schließen niemanden aus": Sarigül auf Wahlkampftour in Istanbul. Der 57-jährige Polit-Profi präsentiert sich im Gegensatz zu Premier Erdogan als großer Gesellschaftsversöhner.

Foto: Reuters/Orsal

Kein Tourist kommt hierher, weit im Westen, wo die Millionenmaschine Istanbul langsam endet. Aber auch das türkische Wählervolk will sich nicht einstellen. Ein Nachmittag während der Woche in Büyükçekmece, der "großen Schublade", wie der graue Küstenort, 50 Kilometer weit von Istanbuls Zentrum, übersetzt heißt, ist ein unmöglicher Termin für ein großes Wahlkampftreffen. Mustafa Sarigül füllt die Halle mit Parteifunktionären und Bediensteten der Stadtverwaltungen aus dem Umkreis.

"Jede Glühbirne hat ein Ablaufdatum", ruft er in die Menge. Den Spruch kennen sie, die Anhänger johlen. Die Glühbirne ist das etwas altbackene Symbol der türkischen Regierungspartei AKP. "Wenn du sie nicht wechselst, gibt es Feuer im Haus und Feuer auf der Straße", sagt Mustafa Sarigül über die Glühbirne der Konservativ-Religiösen. "Auf Wiedersehen Tayyip", antwortet die Menge.

Sarigül ist ausgezogen, Tayyip Erdogan zu schlagen, den übermächtigen Regierungschef. Erst in Istanbul, der wichtigsten Stadt des Landes, wo Ende März ein neuer Bürgermeister gewählt wird. Dann auf nationaler Ebene. "Er hat das Format für einen Premierminister", lobte ihn Kemal Kiliçdaroglu, der sozialdemokratische Oppositionsführer, dieser Tage.

Das war, nachdem Erdogan bei einer Rede ein Foto hochgehalten hatte. Darauf war Kiliçdaroglu vor einem Aktenregal in der Parteizentrale der CHP zu sehen; auf einem der Ordner in diesem "Giftschrank" mit angeblichen Korruptionsfällen prangte groß der Name "Sarigül". Das Verhältnis zwischen dem nun zugkräftigsten Oppositionspolitiker der Türkei und der CHP ist ein wenig kompliziert.

"Er ist der ideale Kandidat für uns", erklärt gleichwohl einer der Sarigül-Unterstützer in der Halle von Büyükçekmece, die an Wochenenden für große Hochzeiten verwendet wird. "Er bringt die Menschen zusammen, er ist laizistisch, demokratisch, sozial", zählt Yilmaz Reisoglu auf, ein pensionierter Lehrer.

"Wenn sie Istanbul verlieren, stürzt die Regierung", versichert sein Nachbar. Ilhan Osmansahin, ein Uni-Professor, lässt kein gutes Haar an Istanbuls Modernisierung unter dem amtierenden Bürgermeister Kadir Topbas. Die ganz großen Projekte seien noch in der Zeit vor der AKP-Herrschaft geplant worden, behauptet er; und der Rest sei Murks. "Nehmen Sie den Metrobüs! Haben Sie in irgendeiner anderen Stadt der Welt so etwas gesehen? Das sind kurzfristige Lösungen für einen Tag."

Eine Stunde rasende Fahrt im Metrobüs sind es vom Zentrum der türkischen Metropole bis nach Büyükçekmece, immer auf der Stadtautobahn, wo der Bus seine eigene Spur hat, über das Goldene Horn, am Flughafen vorbei und dem ersten der zwei Binnenseen am Ufer des Marmarameers mit dem Namen Küçükçekmece, der "kleinen Schublade". Der Metrobüs spuckt unterwegs seine Passagiere an Haltestellen auf der Autobahn aus, mitten im Häusermeer. Aber dafür ist er schneller als die Autos, die im Stau stecken.

Sarigül ist ein lausiger Redner. Erdogans Wortgewalt und dessen theatralische Pausen fehlen ihm. Seine Sätze, vorgetragen mit der Maschinenhaftigkeit eines Politikers, der seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit spricht, sind kurz, und er wiederholt sie zweimal, dreimal, wie ein Lehrer: "Mit Kopftuch oder ohne, alle sind unsere Brüder und Schwestern. Wir schließen niemanden aus. Vergesst nicht, auch euer Feind ist ein menschliches Wesen."

Sarigül, seit 15 Jahren Bürgermeister des großen Istanbuler Innenstadtviertels Sisli, war immer schon ein Konsenspolitiker. In Sisli lebt noch das alte Istanbul - das Bürgertum von Orhan Parmuk, dem Nobelpreisträger, die letzten Griechen, die armenische Minderheit. Der heute 57-jährige Sarigül kann mit allen: den liberalen Aleviten und den stockkonservativen Sunniten, den kleinen und den großen Geschäftsleuten.

Jetzt, wo Erdogan wütend auf die laizistische Opposition wie auf die Gegner im eigenen islamischen Lager losgeht, präsentiert sich Sarigül als großer Versöhner. "Allah" fehlt in keiner Rede mehr, auch nicht in Büyükçekmece: "Wir haben unsere Macht zuerst von unserem Gott erhalten und dann von unseren Bürgern." (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 5.2.2014)