Helmut Schmidt sah griesgrämig über seine Lesebrille, zog an einer Mentholzigarette und ­dekretierte in schneidigem hanseatischem Ton: "Diese Diskussion hat mir ganz und gar nicht gefallen."  Es sei ihm gleichgültig, ob es die Nato in zehn Jahren noch gebe. Hier in München laufe eine grundfalsche, rückwärtsgewandte Debatte. Und vor ­allem: Die Europäer, die ökonomisch und demografisch auf ganzer Linie auf dem Rückzug seien, überschätzten ihre eigene Bedeutung deutlich.

Es war der stärkste Moment dieser Sicherheitskonferenz. Denn der 95-jährige Schmidt – auf dem Podium neben anderen Altspatzen wie Henry Kissinger, Valéry Giscard d’Estaing und Egon Bahr – brachte den Fokus auf das Grundsätzliche.

Wie immer gab es in München ein bestimmendes Thema – diesmal den Aufstand in der Ukraine. Vergangenes Jahr war es Syrien, das heuer eine Nebenrolle spielte, obwohl dort weiter ohne Gnade gemordet wird. Schmidts Äußerung aber ließ innehalten im ­frenetischen Rhythmus von Themen, Debatten und (Geheim-)Treffen. Die Frage ist: Machen die Europäer und ihre transatlantischen Partner heute denn noch eine adäquate Außen- und Sicherheitspolitik?

Vor 50 Jahren, als die Konferenz als Wehrkundetagung zum ersten Mal ­abgehalten wurde, war die Lage überschaubarer und die Frage einfacher zu beantworten: Der Kalte Krieg wurde zwar immer heißer, militärische Vernichtungskalküle immer bizarrer, aber die Notwendigkeit internationaler Politik war unbestritten – und unter dem Strich schafften es zumindest die Westeuropäer, in diesen Jahrzehnten den Krieg untereinander zu eliminieren und letztlich mit den Amerikanern auch die Sowjetunion zu Fall zu bringen.

Heute ist die Welt um Zehnerpotenzen globalisierter. Staaten sind um ein Vielfaches abhängiger voneinander, die Herausforderungen derart verwoben, dass der Unterschied zwischen Innen- und Außenpolitik zerfließt. Dennoch scheint die Politik immer lokaler zu werden. Äußere Angelegenheiten, die Notwendigkeit, mitunter militärische Stärke zu zeigen und dafür auch entsprechende Fähigkeiten bereitzustellen, sind beinahe kein Thema mehr in Europa. Genauso wenig wie der von Schmidt eingeforderte Blick in die Zukunft.

Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum finden heute vor allem in Asien statt. Sicherheitspolitische Her­ausforderungen für die Europäer entstehen in Afrika. Dorthin muss die diplomatische, und wenn nötig auch militärische, Aufmerksamkeit gerichtet sein – denn die Distanz zwischen Timbuktu und Tamsweg, zwischen Bangui und Bregenz ist in Zeiten wie diesen kürzer, als viele wahrhaben wollen.

Immerhin waren diesmal zwei Minister aus Österreich in München anwesend – die Herren Sebastian Kurz und Gerald Klug. Dennoch ist es evident, dass jene glückselige Ignoranz, mit der sich insbesondere die Regierungsspitze aus allen auswärtigen ­Angelegenheiten heraushält, zu wenig ist, um in einer globalisierten Welt zu bestehen. 

Neutralitätsfolklore ist ebenso ein Relikt aus dem Kalten Krieg und der Fetisch einer vergangenheitsgeleiteten Debatte. Auch Wien sollte auf Helmut Schmidt hören und lernen, nicht nur mit einer durch und durch globalisierten Zukunft umzugehen, sondern diese auch aktiv zu gestalten. (DER STANDARD, 3.2.2014)