Wer in Claudia Erdheims neuem Roman Betty, Ida und die Gräfin. Die Geschichte einer Freundschaft den gemächlichen, im behaglichen bürgerlichen Salon oder in den ruhigen Gewässern der weltentrückten Poesie angesiedelten Roman vermutet, wird schnell seinen Irrtum erkennen. Der Roman besticht zwar mit anmutigen Dialogen und mancher gehobenen ästhetischen Diskussion, ist aber mit dem "Herzblut der Poesie" geschrieben. Sowohl das Erhabene, das uns nach Schiller "von der sinnlichen Welt befreit", als auch das Schöne, das uns an sie "bindet", erweisen in diesem Roman, der auch das übliche Diktum "Genie und Leidenschaft" umwertet, ihre Unzulänglichkeit.

Zwei der drei weiblichen Protagonisten in Erdheims Roman sind Dichterinnen. Zuallererst die Lyrikerin Betty Paoli, die aussieht "wie eine, die eher Geschichten hat als Gedichte schreibt". "Dunkle ruhelose Augen", "ein satirisches Lächeln" und "etwas Leidenschaftliches, Konvulsivisches". Betty, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muss und ohne Zigarren nicht arbeiten kann, kennt alle "geistigen Größen" Wiens. Franz Grillparzer, Heinrich Laube, Ferdinand von Saar, Adalbert Stifter, Nikolaus Lenau gehören zu ihrem Freundeskreis und sind daher auch häufige Gäste in Erdheims Roman.

Dann die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach - ehemalige Comtesse Dubsky -, "eine gescheite, empfindsame Frau, eine vortreffliche Persönlichkeit" von "unendliche[r] Güte", wie Betty Paoli gleich bei ihrem ersten Treffen feststellt. Keine Dichterin, aber von ebenso prächtigem literarischem Spürsinn und Geschmack und von einer genauso "starke[n] und tieffühlende[n] Natur" ist die Dritte im Bunde - Ida Fleischl, eine Dame aus dem jüdischen Großbürgertum. Dichten und das gemeinsame Tarockspielen sind der Lebenssinn dieser drei Frauen. Man genießt das Salonleben in Wien, man reist (wobei der Leser ein Stück Geschichte der Eisenbahnfahrt mit auf den Weg bekommt), und man geht ins Theater.

Erdheim enthüllt ein ganzes Kapitel glamouröser Wiener Theatergeschichte - so neben einigen Burgtheaterintrigen die Entwicklung des Burgtheaters unter Heinrich Laube oder die Wiedereröffnung des Carltheaters nach einer vorläufigen Schließung im Revolutionsjahr 1848 mit Nestroys Die beiden Nachtwandler.

Doch die Geschichte der Freundschaft der drei Frauen ist auch die Geschichte der Kataklysmen und Eruptionen im Habsburgerreich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir erleben in diesem Roman, den man mit gutem Recht einen historischen nennen kann, nicht nur viel Wiener Lokalkolorit (einschließlich böhmischer Speisen wie Golatschen und Powidltascherln), sondern auch die Märzrevolution von 1848 und Fürst von Metternichs Rücktritt, den Kampf um die Gewährung der Judenemanzipation, den Ausbruch der Cholera und die Schlacht bei Königgrätz im Jahre 1866. Eine Seismografie der österreichischen Gesellschaft also, die auch den schlummernden und sein hässliches Haupt zunehmend erhebenden Antisemitismus mit seinen Schimpfparolen wie "Saujuden hinaus" oder "Haut die Juden nieder" nicht verschweigt.

"Wien ist ein Höllenpfuhl. Man atmet nichts als giftige Dämpfe ein", meint auch Betty Paoli. "Betty ist unwohl. Leidend, sehr leidend." Selten ist die Nervosität der Zeit so einfühlsam und zugleich so präzis erfasst worden wie in Erdheims Betty, Ida und die Gräfin. "Ruhe, Müßiggang und frische Luft" lautet das Rezept der zeitgenössischen Ärzte gegen die Nervosität, die große Geißel, die - wie man sieht - lange vor der Jahrhundertwende am Werk war.

Kuren und Ärzte, darunter große Namen wie Hyrtl, Chrobak, Billroth oder Breuer, sind aus diesem Roman, der auch ein faszinierendes Panorama der damaligen Modekurorte Ischl, Baden, Franzensbad, Karlsbad usw. unterbreitet, nicht wegzudenken. Claudia Erdheim lässt das gesamte Arsenal der ärztlichen Kunst von damals auffahren - Blutegel, Schwefel- und Solebäder, Elektrisieren, diverse Mittel gegen Zahnschmerzen.

Diese Verschränkung von Literatur- und Medizingeschichte bzw. Nervositätsdiskurs lässt die weiblichen Zentralfiguren als Menschen aus Fleisch und Blut und nicht als Exemplare aus dem literaturgeschichtlichen Herbarium erscheinen. Nicht zuletzt ist es aber auch eine Geschichte der ärztlichen Ohnmacht wie im Fall von Idas Sohn Ernst Fleischl von Marxow, der sich während einer Obduktion mit Leichengift infiziert hatte und mehrmals erfolglos operiert wurde.

Aus dieser ärztlichen Ohnmacht sollten bald neue Heilmethoden wie die Psychoanalyse entstehen, doch es zeugt von Claudia Erdheims Um- und Weitsicht, dass sie zwar Sigmund Freud - neben Sigmund Exner ein guter Freund Ernst Fleischls - in ihrem Roman auftreten und Betty elektrisieren lässt, aus dieser Episode aber keine Dividenden zieht, um beispielsweise einen Freud-Roman zu schreiben. Viel wichtiger als Freud ist in ihrem Buch dessen Mentor Dr. Josef Breuer, der Familienarzt der Fleischls, der im besten Sinne Medizin und Literatur verbindet, steht er doch den Protagonistinnen - vor allem der Gräfin Marie von Ebner-Eschenbach - sowohl mit medizinischem als auch mit literarischem Rat immer zur Seite.

"Genie und Leidenschaft" ergießen sich in diesem Roman also nicht "in erhabenen Orkanen" und "prachtvollen Blitzen", wie sich die Protagonistinnen dies wünschen, sondern sind von ihrem zermürbenden Schmerz und Leid, von ihren "Herzkrämpfen" gezeichnet. Erdheims "Geschichte der drei Freundinnen" ist ungemein dicht, aber äußerst dynamisch und lebendig in durchgehendem Präsens wiedergegeben - fast eine Inszenierung. Die dramatische Kunst der Autorin verbindet die Darstellung der "Seelenkämpfe" der Figuren mit den Geschicken des "zusammenbrechende[n] Reich[s]", enthält aber nichts Apokalyptisches, sondern überrascht immer wieder mit subtilen humoristischen Akzenten.

Mit ruhigen, sicheren Strichen seziert Erdheim die "innere Unruhe und Zerrissenheit" ihrer Figuren und trifft den innersten Nerv einer "überreizten Zeit". Ihr Buch ist nicht bloß die Geschichte einer Freundschaft, es ist ein Donaumonarchie-Roman vom Feinsten. (Galina Hristeva, Album, DER STANDARD, 1./2.2.2014)