Ursula Prutsch: Unasur war ein Versuch Brasiliens und Venezuelas, die Vormachtstellung der USA in der Organisation Amerikanischer Staaten zu brechen.

Foto: Bert Eder

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien werden Proteste wie im vergangenen Sommer beim Confederations Cup befürchtet, als Großdemonstrationen die Innenstädte mehrerer Metropolen lahmlegten. derStandard.at traf die österreichische Historikerin Ursula Prutsch am Rande einer Diskussionsveranstaltung im Wiener C3.

derStandard.at: In Brasilien sind seit 2003 mit Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff Linke an der Macht. Warum gab es gerade in diesem Land 2013 die heftigsten Sozialproteste auf dem Kontinent?

Prutsch: Die Regierung Lula hat es mit einer klugen Sozialpolitik geschafft, 40 Millionen Brasilianer aus der bittersten Armut zu holen. Dazu gehört zum Beispiel die Familienbeihilfe, die an den Schulbesuch gekoppelt ist. Diese "neuen Konsumenten" sehen sich erstmals auch als Staatsbürger und wollen ihre Rechte auch wahrnehmen. Da die brasilianische Wirtschaftsentwicklung derzeit etwas stagniert, besteht natürlich die Sorge, in die Armut zurückzufallen. Deswegen werden Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder besonders heftig kritisiert. Die Korruptionsaffären, die die Regierungspartei PT (Partido dos Trabalhadores) erschüttert haben, hatten natürlich auch ihren Anteil.

derStandard.at: Welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, um den Ursachen der Proteste wie den hohen Preise für WM-Tickets und öffentliche Verkehrsmittel entgegenzuwirken?

Prutsch: Ein wichtiges Zeichen war jedenfalls, dass Präsidentin Rousseff Verständnis für die Proteste äußerte. Ihre argentinische Amtskollegin Cristina Kirchner de Fernandez hätte so etwas sicher nicht gemacht. Rousseff kommt ja selber aus dem linken Widerstand gegen die brasilianische Militärdiktatur, ist gegen einige Politiker, deren Korruption besonders offensichtlich war, vorgegangen und hat mehr Mittel für Infrastrukturprojekte versprochen. Rousseff konnte die FIFA überreden, Gratistickets für Sozialhilfeempfänger und Indios zur Verfügung zu stellen. Einer der Kritikpunkte bei den Protesten anlässlich des Confederations Cups war ja, dass das Alkoholverbot in den Stadien aufgehoben wurde, um der FIFA zu ermöglichen, mit Bierverkauf Geld zu verdienen, aber den Straßenhändlern untersagt wurde, ihre Ware anzubieten.

derStandard.at: Stichwort Indigena-Proteste: Im Dezember wurden die Besetzer des Museu do Índio, das dem Ausbau des Maracanã-Stadions im Weg steht, mit Polizeigewalt vertrieben. Wie geht es der brasilianischen Regierung mit Protesten von Minderheiten?

Prutsch: Offiziell gibt sich die Regierung den Anschein, alles zu tun, um die Indios zu unterstützen. Andererseits unterstützen der Regierungspartei PT nahestehende Gewerkschaften Großprojekte wie den Belo-Monte-Staudamm, weil sie der Ansicht sind, dass die neue Konsumentenschicht mehr Energie braucht. Rousseff und ihre PT sind auf die Unterstützung ihrer neun Koalitionspartner im Parlament angewiesen und müssen sich um Kompromisse bemühen. Besonders in den Regionalparlamenten von Bundesstaaten wie Pará ist natürlich auch der Einfluss der Lobbys der Großgrundbesitzer nicht zu unterschätzen.

derStandard.at: Was ist umweltpolitisch von Roussefs Präsidentschaft zu erwarten? Sie war ja als Energieministerin und Kabinettschefin im Rahmen des "Nationalen Wachstumsplans" für Projekte wie den umstrittenen Staudamm Belo Monte verantwortlich.

Prutsch: Die Regierungen versuchen eine Balance zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit zu finden, was äußerst schwierig ist. Rousseff ist sicher mehr Technokratin als Lula und vertritt die Ansicht, dass nur mit Großprojekten Geld erwirtschaftet werden kann, das dann den Armen zugute kommt.

derStandard.at: Brasilien setzt auf Treibstoffe, die aus Biomasse hergestellt werden. Europa fordert Lateinamerika ja gern auf, mehr für den Umweltschutz zu tun, was dort mit "Und wo sind eure Urwälder?" quittiert wird ...

Prutsch: Die Ethanolproduktion ist ein gutes Geschäft für Großgrundbesitzer, weil der Anbau von Zuckerrohr hoch subventioniert wird. Die Technik wird mittlerweile sogar in die Karibik exportiert, in der Dominikanischen Republik entsteht gerade eine Anlage, auf Kuba ist eine geplant. Weil diese Lobby so stark ist, erwarte ich hier kein Umdenken. Die Herstellung von Treibstoffen aus Biomasse wurde in Brasilien ja bereits im Zweiten Weltkrieg betrieben, weil das Erdöl in die USA exportiert wurde.

derStandard.at: Der PT wurde auch vorgeworfen, finanzielle Zuwendungen aus Kuba und von der kolumbianischen FARC-Guerilla erhalten zu haben ...

Prutsch: Davon habe ich nichts gehört, ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass Lula mit seinem Hintergrund als linker Gewerkschafter auf Unterstützung aus Kuba zählen kann. Er hat sich ja mit dem Projekt Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) bemüht, den Einfluss der USA zurückzudrängen. Rousseff, die sich übrigens gerade in Kuba aufhält, um dort Stimmung gegen das US-Embargo zu machen, arbeitet hingegen an einer Verbesserung der allerdings schon immer ziemlich guten Beziehungen zu den USA.

Hier sind deutliche Unterschiede in der brasilianischen Außenpolitik zu erkennen: Während sich Lula heftiger Kritik ausgesetzt sah, weil er im Rahmen seiner Bündnispolitik in alle Richtungen auch Verhandlungen mit dem Iran befürwortete oder Verständnis für den mittlerweile gestürzten libyschen Diktator Muammar Gaddafi zeigte, hat Rousseff klar erkennen lassen, dass sie mit solchen Ländern nicht zusammenarbeiten will. Die Unasur war zum Beispiel ein Versuch Lulas, den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der eine Politik der Provokation verfolgte, einzubinden.

derStandard.at: Warum tun sich lateinamerikanische Wirtschaftsbündnisse wie Mercosur, Unasur und Chávez' "Bolivarianische Alternative" so schwer damit, in die Gänge zu kommen?

Prutsch: Das ist geschichtlich zu betrachten. Brasilien war schon im Zweiten Weltkrieg ein treuer Verbündeter der USA. Unasur war auch ein Versuch Brasiliens und Venezuelas, die Vormachtstellung der USA in der Organisation Amerikanischer Staaten zu brechen. Der Wirtschaftsbund Mercosur hingegen hat das Problem, dass die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Kapazitäten haben. So wurde Brasilien heftig kritisiert, weil die dortige Agrarindustrie in Paraguay massiven Druck ausübt, die Sojaproduktion auszuweiten. Lateinamerikanische Solidarität gab es nicht und wird es meiner Meinung nach nicht geben, weil die Interessen der einzelnen Staaten zu unterschiedlich sind.

derStandard.at: Zu Beginn des dritten Jahrtausends gewannen linke Politiker eine Wahl nach der anderen in Lateinamerika. Welche Bilanz ziehen Sie ein Jahrzehnt später?

Prutsch: Das ist differenziert zu betrachten. Als Präsident Lula zum Beispiel mit der Bundesentwicklungsbank die Großindustrie förderte, wurde kritisiert, dass dies keine sozialistische Politik sei. Brasilien ist es gelungen, eine soziale Marktwirtschaft zu etablieren, während die argentinische Regierung auf eine radikale Enteignungspolitik setzt und mit großen Finanzproblemen zu kämpfen hat. Dies ist allerdings auch auf die Politik des neoliberalen Ausverkaufs zurückzuführen, die unter Präsident Carlos Menem schweren Schaden angerichtet hat.

derStandard.at: Chiles erneut gewählte Präsidentin Michelle Bachelet hat bei ihrer Siegesfeier unter anderem eine umfassende Reform des teuersten Bildungssystems der Welt angekündigt, die sie mit höheren Unternehmenssteuern finanzieren will. Was hielt sie in ihrer ersten Amtszeit davon ab? Damals wurden Studentenproteste gewaltsam niedergeschlagen.

Prutsch: Bachelet war in ihrer ersten Amtsperiode auf die Unterstützung ihrer Koalitionspartner angewiesen. Sie musste sich bemühen, die Anhänger der alten Militärdiktatur und des neoliberalen Wirtschaftskurses zu beruhigen. Das Problem Polizeigewalt beschränkt sich nicht auf Chile: Die Polizeiapparate sind in vielen Staaten Lateinamerikas noch vom Geist der Diktaturen durchdrungen, das hat keine linke Regierung im Griff. Frau Fernández de Kirchner in Argentinien vertritt die Ansicht, die Proteste gegen ihre Politik würden von rechtsradikalen Verschwörern organisiert.

derStandard.at: Brasilien hat inoffiziellen Angaben zufolge wegen des NSA-Skandals keine US-Kampfjets, sondern den schwedischen Gripen gekauft, Ecuador gewährt Wikileaks-Gründer Julian Assange Schutz in seiner Londoner Botschaft, Venezuela hat Edward Snowden Asyl angeboten: Ausdruck einen neuen Selbstbewusstseins?

Prutsch: Durchaus. Beim Gripen-Deal kann es allerdings auch einfach sein, dass das schwedische Angebot besser war. Brasilien hat ja sein Rüstungsbudget aufgestockt und unter anderem auch französische Atom-U-Boote beschafft. Man signalisiert damit, dass man bereit ist, die Ölvorkommen und auch das Amazonasgebiet zu verteidigen. (Bert Eder, derStandard.at, 29.1.2014)