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Halit Yozgat, Vater eines der NSU-Opfer, bei einer Gedenkfeier.

Foto: REUTERS/Lisi Niesner

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Prozessbeginn im Mai 2013 in München: Demonstranten erinnern an die Opfer des NSU.

Foto: APA/dpa/Hildenbrand

Burschel pendelt seit 2013 nach München zum Prozess.

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STANDARD: Wie haben Sie den Prozess bisher erlebt?

Burschel: Der Prozess ist der helle Wahnsinn. Es werden so viele unfassbare Details dort verhandelt, dass man aus dem Staunen und dem Entsetzen nicht herauskommt. Mehr als 300.000 Seiten Ermittlungsakten, fast 500 Seiten Anklageschrift, 600 geladene Zeugen, und nach bereits 75 Verhandlungstagen sind weitere 115 Prozesstage bis Ende 2014 terminiert, wiewohl nicht klar ist, ob das Verfahren bis dahin abgeschlossen ist. Dieses Mammutunternehmen ist in einen viel zu kleinen Gerichtssaal gepfercht, den viele Bunker nennen – er ist zu klein für die Dimension der Verbrechen.

STANDARD: Man spricht von einem Netzwerk nach Österreich, Südtirol und Südafrika im Hintergrund des NSU. Wird es aufgearbeitet?

Burschel: Nein, von den nationalen und internationalen Netzwerken, in die die Jenaer und Thüringer Neonaziszene und der NSU eingebunden waren, wollen im Verfahren allenfalls einige kundige Nebenklagevertreter etwas wissen. Dabei gibt es unübersehbar viele Hinweise auf Verbindungen etwa zum europäischen Blood-&-Honour-Netzwerk, zu den britischen Rechtsterroristen von Combat 18 oder zu einem umfangreich organisierten Umfeld in Deutschland. Auch die Verbindungen zwischen der Thüringer Szene zu Neonazis rund um das Objekt 21 in Österreich sind nicht zu übersehen. Die Bundesanwaltschaft besteht darauf, dass das Verfahren stur und eng ­entlang der Ausgangsthese der Anklage geführt wird: eine Drei-Personen-Zelle mit einer Handvoll Helfern, die überwiegend auf der Anklagebank sitzen. Die Bundesanwaltschaft kann kein Interesse an der Ausleuchtung des NSU-Umfelds haben, da sonst die enge Durchsetzung des Umfelds mit staatlich alimentierten V-Leuten – das sind Vertrauensleute aus der Naziszene, die den Inlandsgeheimdienst informieren – offenbar würde. Der NSU war von mindestens 24 V-Leuten förmlich umstellt. Da stellt sich die Frage: Wie viel Staat steckte eigentlich insgesamt im NSU-Komplex?

STANDARD: Wie dicht war die Verbindung nach Österreich?

Burschel: Außer freundschaftlichen und teils wirtschaftlichen Kontakten zur Thüringer Szene kann ich das nicht konkretisieren. Da gälte es, wie bei den Verbindungen nach Skandinavien, Südtirol und Südafrika, die im Prozess wiederholt auftauchen, weitere intensive Nachforschungen anzustellen. Das wird mit Sicherheit nicht im Schwurgerichtssaal A 101 im Oberlandesgericht München stattfinden. Leider.

STANDARD: Gibt es Erkenntnisse, die erst der Prozess brachte?

Burschel: Dank der intensiven Befragung des Angeklagten Carsten S. durch Richter Manfred Götzl wurde ein weiterer Anschlag des NSU aufgedeckt. S. wollte unter Tränen irgendwann reinen Tisch machen und berichtete von einem Sprengstoffanschlag in Nürnberg 1999, möglicherweise des ersten des NSU. Die Attentäter hatten eine präparierte Taschenlampe in einer türkischen Kneipe platziert, die in den Händen eines Putzmannes detonierte und ihn schwer verletzte. Dass man nach dem Aufliegen des NSU trotz umfangreicher Überprüfung ungeklärter Anschläge dieses einen nicht mit dem NSU in Verbindung gebracht hatte, spricht Bände über behördliche Ignoranz und aktives Wegschauen.

STANDARD: Apropos Wegschauen. Ist der Verfassungsschutzbeamte, der bei einem der Morde am Tatort anwesend war, noch Thema?

Burschel: Andreas T. ist immer wieder Thema im Prozess, weil die Geschichte so ungeheuerlich und dubios ist. Der Beamte des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen saß während des Mordes an Halit Yozgat am 2006 – zufällig, wie es heißt – in dessen Internetcafé. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde 2007 auf Anordnung des damaligen hessischen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier zum Schutz des Wohls des hessischen Staates eingestellt. Die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen T., der in seinem sozialen Umfeld auch mal Klein-Adolf genannt wurde, werden im NSU-Prozess nicht beigezogen. 

STANDARD: Sind die 24 V-Leute namentlich bekannt?

Burschel: Bekannt und aktenkundig. Aber der Quellenschutz ihrer V-Leute geht den insgesamt 17 deutschen Inlandsgeheimdiensten über alles. Kurz nach dem Auffliegen des NSU gab es einige skandalöse Aktenvernichtungsaktionen im Bundesamt für Verfassungsschutz und anderen Behörden. Eine Schredder-Aktion fand am 11. 11. 2011 statt und wird wegen des Faschingsbeginns Aktion Konfetti genannt. Nur ein Teil der Dokumente wurde rekonstruiert.

STANDARD: Wie verhalten sich die Angehörigen der Opfer im Prozess?

Burschel: Für sie gibt es jede Menge Zumutungen: Tatort- und Obduktionsfotos sind an sich schon grauenhaft. Aber die vermutlich noch größere Zumutung ist die Ungerührtheit, ja Unbekümmertheit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Sie genießt die Aufmerksamkeit und flirtet heiter und aufgekratzt mit ihrem Anwalt, als ginge es um einen Eierdiebstahl und nicht um zehn Morde, mindestens drei Sprengstoffanschläge und 15 Raub- und Banküberfälle. Ich bezweifle, dass die Angehörigen bekommen, was sie sich wünschen: lückenlose Aufklärung. Nach über zehn Jahren rassistischer und demütigender Ermittlungen der Behörden fast ausschließlich gegen Angehörige der Opfer kann von Genugtuung und Gerechtigkeit vermutlich nicht die Rede sein.

STANDARD: Was hat Sie bisher am meisten berührt?

Burschel: Wenn Opferzeugen und Angehörige von ihrem Leid, den Folgen der brutalen Morde, von Demütigung durch die Behörden und von existenziellen Problemen berichten, geht einem das durch und durch. Zum Teil richten sie das Wort direkt an die Hauptangeklagte. Das sind die bedrückendsten Momente im Verfahren. Und der bösartige Hohn der Täter gegen Opfer im Bekennervideo, das wie im Kino an die Wände des Gerichtssaales projiziert wurde, lässt einem das Blut gefrieren. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 24.1.2014)