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Nicht die Leistung lasse nach - die Datenmenge sei bei älteren Menschen einfach größer, sagen Linguisten.

Foto: Reuters/LUCY NICHOLSON

Tübingen - Die Annahme, dass die menschlichen Gehirnfunktionen mit zunehmendem Alter stetig abnehmen, kann so nicht stehen bleiben. In einer aktuellen Studie kam ein Team um den Sprachwissenschafter Michael Ramscar von der Universität Tübingen zu einem anderen Schluss: "Das menschliche Gehirn arbeitet im Alter zwar langsamer, aber nur, weil es im Laufe der Zeit mehr Wissen gespeichert hat."

Die Forscher erstellten Computermodelle, die menschliches Verhalten in Tests zur kognitiven Fähigkeit vorhersagen und auswerten können. Speisten sie nur wenige Datensätze in den Computer ein, ähnelte die Leistung jener von Jugendlichen. Benutzten sie jedoch sehr große Datensätze, um die Erfahrung eines ganzen Lebens zu simulieren, war die Leistung des Computermodells mit der eines Erwachsenen vergleichbar. Der Grund für diesen Unterschied war nicht, dass die Leistungsfähigkeit des Computers nachgelassen hatte, berichten die Forscher im Fachblatt "Cognitive Science". Er wurde deshalb langsamer, weil er mehr Informationen verarbeiten musste.

Datenmenge bestimmt "Suchdauer"

Ramscar veranschaulicht dies an zwei Beispielen: "Stellen Sie sich jemanden vor, der die Geburtstage von zwei Personen kennt und sich perfekt an diese erinnert. Würden Sie wirklich behaupten, dass diese Person ein besseres Gedächtnis hat, als jemand, der die Geburtstage von 200 Leuten kennt und in neun von zehn Fällen Person und Datum richtig zuordnen kann? Oder sie durchsuchen ein Buchregal mit 200 Büchern und eines mit 20 Büchern ‒ bei welchem finden Sie ihre Informationen schneller?"

Die Wissenschafter trainierten das Computerprogramm mit riesigen linguistischen Datensätzen. Dabei konnten sie zeigen, dass standardisierte Wortschatz-Tests, wie sie in Altersstudien verwendet werden, die Wortschatzgröße von Erwachsenen massiv unterschätzen. Deshalb würden generell auch die Gründe für die längere "Suchdauer" im Gedächtnis falsch eingeschätzt, so die Forscher.

Plausibilität von Begriffspaaren

Ihre Ergebnisse lieferten nicht nur Hinweise darauf, warum das Gehirn eines Erwachsenen als langsamer und vergesslicher erscheint als das eines Jugendlichen, so die Linguisten. Sie kommen auch zu dem Schluss, dass die Leistungsveränderungen im Alter sogar demonstrieren, dass Erwachsene ihren Zuwachs an Wissen besser beherrschen. Die Wissenschafter nutzten dafür den gängigen "paired-associate learning"-Test, mit dem kognitive Fähigkeiten gemessen werden sollen. Die Probanden mussten sich dabei Wortpaare wie "oben/unten" oder "Krawatte/Knallbonbon" merken.

Zwar konnten Jugendliche sich Wortpaare wie "oben/unten" besser merken als etwa "Krawatte/Knallbonbon", weil diese im Sprachgebrauch häufiger gemeinsam auftreten. Aber insgesamt prägten sie sich Wortpaare unabhängig davon ein, ob sie zusammen Sinn ergaben – es machte für sie wenig Unterschied ob "Knallbonbon" in Zusammenhang mit "Krawatte" oder mit einem anderen Wort erschien.

Die älteren Probanden hingegen merkten sich in dem Test zusammenpassende Wortpaare leichter als unsinnige Zusammenstellungen – sie hatten im Laufe ihres Lebens ein besseres Verständnis dafür entwickelt, wie Wörter im Sprachgebrauch zusammengehören. Harald Baayen, Leiter der Forschungsgruppe für Quantitative Linguistik an der Universität Tübingen, erklärt dies so: "Um eine Sprache richtig zu verwenden, muss man vermeiden, Begriffe zusammenzubringen, die zwar plausibel erscheinen, aber nicht zusammenpassen. Das können Erwachsene aufgrund ihrer Lebenserfahrung besser."

Neue Tests gefordert

Die Tübinger Linguisten folgern aus ihren Ergebnissen, dass die Messung der kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen anders gestaltet werden muss. Für sinnvolle Tests müsse zunächst geklärt werden, welche und wie viele Informationen unser Gehirn verarbeitet. Die bisher gängigen Tests können dies nach Ansicht der Forscher nicht leisten, sagt Ramscar. "Das Gehirn älterer Menschen wird nicht leistungsschwächer, ganz im Gegenteil, es weiß einfach mehr." (red, derStandard.at, 1.2.2014)