Holt Schubert unterm Glassturz hervor: das Ensemble Schlüterwerke.

Foto: schlütergruppe

Wien - Die Grundidee ist schon einmal sehr überzeugend: Die Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller, das allseits geliebte Allertraurigste der Liedkunst, zu verbinden mit einer Winterreise, die sich im schrecklichsten aller bisherigen Kriege ereignet hat: mit dem Russlandfeldzug der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg, der für hunderttausende Soldaten tödlich endete. Der sonst in gediegenem Rahmen miterlittene Seelentod eines Einzelnen wird gekoppelt, geerdet mit physischem Massentod.

Markus Kupferblum, Kopf und Gründer des Ensembles Schlüterwerke, hat diese Kombination ersonnen und als Regisseur auch umgesetzt: Zwei Schauspielerinnen (Andrea Köhler, Stephanie Schmiderer) und ein Schauspieler (Béla Bufe), zwei Sängerinnen (Ingala Fontane, Ulla Pilz) und eine Tänzerin (Katharina Weinhuber) streifen in schwarzen Mänteln und mit weißen Masken in einem Saal des Brick-5 umher.

Von einzelnen Nummern wird "nur" der - gern etwas belächelte - Gedichttext von Müller vorgetragen, mal in soldatischem Ton, mal leiser; er gewinnt durch die außermusikalische Exponiertheit an Dichte.

Mal spielt Donka Angatscheva auf einem alten Flügel Liszts Bearbeitung des Liedzyklus, und dazu wird getanzt. Das eine oder andere Lied wird auch, ganz konventionell und sehr bewegend, mit Klavierbegleitung gesungen. Mitunter scheren Gesangsstimme und Klavier plötzlich in chaos- und improvisationsnahe, zeitgenössische Gefilde aus (etwa im Wegweiser). Textpassagen aus dem Flucht-Tagebuch des 1944 verstorbenen ungarischen Dichters Miklós Radnóti ergänzen das Material.

Dies ergibt in Summe einen fesselnden Abend, der unter die Haut geht. Kupferblum und seinen Künstlerinnen und Künstlern gelingt nicht alles, manche deklamatorische Manieriertheit und Exaltiertheit stört.

Dennoch bringt einem diese Produktion beides näher: sowohl Schuberts allzu vertrautes, allzu sehr unter dem Glassturz der Einzigartigkeit verwahrtes Kunstwerk als auch die schrecklichen Torturen und Ängste, die die größtenteils jungen Soldaten im russischen Winter vor rund sieben Jahrzehnten erleben mussten. (Stefan Ender, DER STANDARD, 21.1.2014)