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Aufbau gibt es in Haiti durch Selbsthilfe und NGO-Unterstützung.

Foto: AP Photo/Dieu Nalio Chery

Port-au-Prince - Kathlene Francois hat den besten Blick von Palmiste-a-Vin. Von ihrer Veranda aus sieht die 42-jährige Hausfrau grüne Hügel, die haitianische Kleinstadt Léogane und an manchen Tagen sogar die türkisblaue Karibik. Früher lebte sie mit ihrem Mann und vier Kindern in einer Hütte, die beim Erdbeben vor vier Jahren einstürzte. Das neue Holzhaus hat die Familie eigenhändig errichtet - unter Anleitung des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK). "Die Regierung hat sich nicht um uns gekümmert", erinnert sich die 42-Jährige. Dafür kamen knapp hundert Hilfsorganisationen (NGO) nach Léogane, bauten Wasserzisternen, Latrinen, Notunterkünfte, Schulen, Spitäler. "Das war wie ein riesiger Basar, und der Staat hat nichts koordiniert", erinnert sich SRK-Mitarbeiter Olivier Le Gall. Viele NGOs hatten keine Ahnung von Haiti und brachten fertige Projekte mit, die nicht ins Land passten.

"Ich wurde vom Ansturm überrumpelt", erinnert sich der Präsident des Bürgervereins von Barriere Jeudi, Pierre-Louis Voltaire. "Unser Hauptproblem hier ist der Fluss, der in der Regenzeit über die Ufer tritt. Weil hier alle Bäume für Holzkohle fällen, schwillt der Fluss immer mehr an und schwemmt die Erde aus den Bergen herunter. Die Hilfsorganisationen interessierte der Fluss aber nicht. Sie wollten Häuer bauen."

80 Prozent Arme, 40 Prozent Analphabeten, 60 Prozent Arbeitslose und Unterbeschäftigte - damit ist Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Ein Land in der Abwärtsspirale. 86 Prozent aller höher Gebildeten kehren ihrer Heimat den Rücken.

Das sollte anders werden nach dem Beben, wie der Chef der Wiederaufbaukommission (IHRC), Ex-US-Präsident Bill Clinton, verkündete. Neun Milliarden Euro Hilfsgelder versprach die internationale Gemeinschaft; Pläne wurden entworfen, wie zerstörte Stadtteile zu Modellsiedlungen werden sollten. Doch nicht nur Häuser, auch die komplette Infrastruktur hätte neu gebaut werden müssen. "Den ausländischen Geldgebern war das zu teuer", erinnert sich eine haitianische IHRC-Funktionärin.

Letztlich scheiterte das Vorhaben aber auch an Korruption und Bürokratie. Die Bilanz der IHRC ist ernüchternd: 53 Prozent der Hilfe wurden demnach für Logistik und Nothilfe wie importiertes Wasser und Zeltplanen ausgegeben; 90 Prozent gingen an der haitianischen Regierung vorbei und landeten vor allem in den Taschen ausländischer Berater und Baufirmen; nur 2,5 Prozent wurden direkt an die Opfer ausbezahlt.

2011 wurde der Sänger Michel Martelly zum Präsidenten gewählt. "Haiti is open for business", lautet sein Slogan. Er setzte auf Luxushotels, finanziert von der Weltbank, ließ den Flughafen renovieren und mit US-Entwicklungshilfegeldern den Industriepark Caracol bauen. Dort lässt ein koreanischer Sweatshop für Mindestlöhne zollfrei Kleider nähen.

Für die 1,5 Millionen Opfer wurden laut dem US-Zentrum für wirtschaftliche und politische Studien (CEPR) nur 6000 Häuser gebaut. Die meisten Zeltlager verschwanden trotzdem, seit die Internationale Organisation für Migration (IOM) den Obdachlosen eine "Räumungsprämie" von umgerechnet rund 350 Euro zahlt. Das Ergebnis entsteht 18 Kilometer nördlich von Port-au-Prince: Rund 120.000 Menschen strömten auf die kargen Hügel von Corail und Canaan und basteln am nächsten Megaslum: Wellblechhütten an Abhängen, Holzhäuser in trockenen Flussbetten. Ohne Planung, ohne Wasser, ohne Strom, ohne Straßen, ohne Schulen. Die Keimzelle der nächsten Katastrophe. (Sandra Weiss, DER STANDARD, 13.1.2014)