"Tunisian Girl" Lina Ben Mhenni wurde schon für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

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Jeder der drei trug seinen Teil zum Sturz Zine El Abedine Ben Alis bei. Drei Jahre später schauen sie zurück und nach vorn.

"Wir stehen gut da im Vergleich mit Ägypten, Libyen oder Syrien", empfängt Karim Bhiri in seinem Studio in der Innenstadt von Tunis. Baseballmütze, ordentliches Bärtchen, Lederjacke mit dem Emblem einer amerikanischen Motorradmarke: Der 32-jährige Grafikdesigner pflegt einen Stil irgendwo zwischen Pariser Banlieue und Videoclips aus Übersee.

Damals, als die Tunesier gegen Ben Ali auf die Straße gingen, war er bieder gekleidet und glattrasiert. Der junge Mann aus Sidi Bouzid im Landesinneren, von wo die Revolution nach der Selbstverbrennung eines Straßenhändlers ihren Ausgang nahm, beendete gerade sein Studium in der Hauptstadt. Mit Handy und Kugelschreiber bewaffnet, zog er durch die Straßen, hielt fest, was er sah, und veröffentlichte auf Facebook. "Die erste digitale Revolution", nennt er heute das, was er damals hautnah miterlebte.

Optimismus und Pessimismus

Karim ist optimistisch: "Wir sind auf einem guten Weg." Die ständigen Debatten zwischen weltlich orientierten Politikern und den regierenden Islamisten werden von den Medien aufgebauscht. "Wir sind ein kleines Land, und wir können zusammenleben", ist er sich sicher. Karim öffnet ein Bild von einem Sit-in vor wenigen Wochen in Sidi Bouzid: Fünf junge Männer hocken zusammen und spielen Karten. "Meine Freunde. Ein Fußballer, ein Kommunist und ein Salafist, der Alkohol verkauft. Das ist für mich Tunesien", sagt er. "Nach der Unabhängigkeit haben die Tunesier ein Boot gebaut. Die Revolution hat es zu Wasser gebracht, und wir mussten feststellen, dass so manche Installation nicht richtig funktioniert. Jetzt bauen wir bei voller Fahrt um. Das ist nicht leicht, aber wir werden das meistern", ist sich Karim sicher.

Nibras Hadhili ist vorsichtiger. "Ich bin Realist. Wir durchleben einen Prozess voller Gefahren", sagt der 27-jährige Informatiker, der sich als freier Journalist verdingt. Bereits vor der Revolution berichtete er für den oppositionellen Internetsender Radio Kalima. Jetzt ist er bei Hiwar El Tounsi (Tunesischer Dialog), einem TV-Sender, der der Zivilgesellschaft breiten Platz einräumt. "Im Zen­trum der Revolution standen soziale Forderungen, und davon wurde nichts erfüllt", sagt Nibras. Der Rapper-Look aus seiner Studienzeit ist einem Pullover und einem Wollschal gewichen.

"Die Lage ist hochexplosiv", warnt er und verweist auf die vielen Proteste im Land. Landwirte und Taxifahrer blockierten dieser Tage große Verkehrsadern aus Protest gegen steigende KFZ-Steuern; Mediziner gehen auf die Straße, Zollbeamte veranstalten Sitzstreiks an den Grenzübergängen. "Dank der Freiheiten – allen voran der Meinungsfreiheit – die wir erkämpft haben, ist die Möglichkeit für Veränderung gegeben; die Gefahr der Islamisierung ist geringer als zum Beispiel in Ägypten", sagt Nibras. Für ihn ist die neue Verfassung (siehe Artikel unten) ein wichtiger Schritt. "Aber sie ist oft so zweideutig, dass mit ihr fast alles möglich ist. Es kommt darauf an, wer in den nächsten Jahren das politische System ausgestaltet."

Für Lina Ben Mhenni spielt all das keine Rolle mehr. Die 30-jährige Anglistikprofessorin an der Universität in Tunis ist pessimistisch. "Wir leben längst in einer neuen Diktatur", sagt sie. Die Islamisten hätten die Revolution beschlagnahmt.

Lina ist das "Tunisian Girl" – so der Name ihres Blogs, in dem sie von Anfang an aus den Unruheherden im Landesinneren berichtet. Sie wurde mehrfach im Ausland ausgezeichnet und selbst für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. "Heute ist nur noch die Rede von der Identität Tunesiens, von der Religion. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür irgendjemand demonstriert hätte", beschwert sie sich und berichtet von Verfolgung Intellektueller, von Gerichtsverfahren gegen Künstler und Journalisten.

Die zierliche Frau redet leidenschaftlich, wirkt aber nervös. "Ein Terrorist, der verhaftet wurde, nannte meinen Namen", berichtet sie. Lina bewegt sich deshalb nur noch mit Leibwächtern. Dass die Gefahr tatsächlich real ist, zeigen die beiden Morde an linken Oppositionellen im vergangenen Jahr. "Wir Jugendlichen haben uns nicht richtig organisiert. Das hat dazu geführt, dass die Parteien alles an sich gerissen haben." (Reiner Wandler aus Tunis/DER STANDARD, 11.1.2014)