Gene Lester in seinem Obsthain hoch über der Bucht von Monterey in Kalifornien. Der 80-Jährige ist Herr über die größte Zitrussammlung der Welt. Erst der Sternekoch David Kinch zeigte dem alten Herrn, was für einen Schatz an Aromen er in seinem Garten hütet.

Foto: tobias müller

Sauer, nicht lustig. Die Früchte unterscheiden sich optisch, aber auch im Geschmack.

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Die Kaviarfrucht. Die schwarze Fingerzitrone hat Perlen als Fruchtfleisch.

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Schale schmeckt. Lester probiert seine Früchte inklusive Schale.

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Die rare Sunquat. Geschmackssensation: Kreuzung aus Kumquat und Mandarine.

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Kontrollgang. Jeden Morgen und Abend kontrolliert Lester seine Zitrussammlung.

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Haus im Hain. Von der Terrasse des Hauses kann man an schönen Tagen die Bucht von Monterey glitzern sehen.

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Ein Zeichen von Größe. Manche Früchte sind groß wie Handbälle, andere haben eher Murmelformat.

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Wenn man Gene Lester (80), fragt, was er sich vom Leben noch wünscht, sagt er: "Eine Blutmandarine." Er mag ihre Farbe sehr, das dunkle, fast violette Rot des Fruchtfleischs.

Außerdem haben es ihm Mandarinen generell angetan: 50 verschiedene Sorten kultiviert er bereits – die Blutmandarine fehlt derzeit noch. "Orangen sind langweilig", meint er, "sie schmecken alle mehr oder weniger gleich und unterscheiden sich nur nach dem Zeitpunkt, zu dem sie reifen. Bei der Mandarine aber ist das ganz anders."

Mehr als 200 verschiedene Sorten

Lester ist Herr über die vielleicht größte private Zitrussammlung der Welt. Auf seinem Grund in den Bergen über der Bucht von Monterey in Kalifornien hat er mehr als 200 verschiedene Sorten zusammengetragen, neben Mandarinen wachsen hier Kumquats, Pomelos, Grapefruits, Zitronen und ein paar nicht ganz so langweilige Orangen.

Rund um sein Holzhaus wuchert ein Gestrüpp aus Büschen und Bäumen, manche eher hochgewachsen und schlank, andere knorrig wie alte Oliven, wieder andere kriechen über den Boden – fast wie Himbeersträucher. Zu beinahe jeder Jahreszeit tragen einige gerade Früchte, gelb, orange, rot, von murmel- bis handballgroß, von rund bis birnenförmig. Andere Bäume blühen, duften intensiv und werden von summenden Bienen umschwirrt. Die Idee, dass der Paradiesapfel eine Zitrusfrucht gewesen sein muss, wirkt hier ganz und gar logisch.

Um eine Fruchtvielfalt, wie sie hier gedeiht, zu erleben, müssen Zitrusconnaisseure sonst um die ganze Welt reisen – von Australien bis nach Marokko, von China nach Spanien, mindestens. Hier jedoch reicht es, durch das Dickicht zu spazieren, eine Frucht hier und eine dort zu pflücken und zuzubeißen. In einem einzigen Garten wird das gesamte, immens breite Geschmacksspektrum dieser Obstgattung schmeckbar.

Kaviar aus Fruchtfleisch

Für Aufsehen bei Gästen sorgt stets die Fingerzitrone, eine Vertreterin der australischen Mikro-Zitrus: Ihre Früchte sehen aus wie schwarze Raupen. Zerdrückt man sie, quillt ihr Fruchtfleisch in kleinen Perlen wie Kaviar aus der Schale. Lester kultiviert die seltene "geflügelte Limette", eine Frucht mit blassgelber Farbe, die zwar nach Limette schmeckt, aber kaum Säure hat. Man kann sie genüsslich aus der Schale zuzeln und sich an ihren süßen Zimtaromen erfreuen.

Er hegt die empfindliche "Sunquat", eine Kreuzung aus Mandarine und Kumquat, deren Schale man wie bei allen Kumquats mitessen kann. Ihre Früchte schmecken überaus komplex, süß, sauer und bitter, knackig und saftig zugleich.

Er schwärmt für die Mandarine "Kleopatra", eine kleine, feste Frucht mit besonders intensiv duftender Schale; und er ist fasziniert von der Ingwer-Mandarine, die, wie der Name vermuten lässt, erstaunlich eindeutig nach dem Rhizom schmeckt. Daneben wuchern Klassiker wie die "Meyer Lemon", die Königin der Zitronen, „Buddhas Hand“, eine asiatische Zitrusfrucht, die aussieht wie eine menschliche Hand, oder die Bergamotte-Orange, deren Schale der Earl Grey Tee sein Aroma verdankt.

Sammlernatur

35 Jahre hat Lester gebraucht, diese Sammlung aufzubauen. Manche Pflanzen brachten ihm Freunde aus dem Ausland mit, manche zog er aus Samen von anderen Sammlern, um manche musste er lange betteln: Es dauerte Monate, bis er einen New Yorker Rabbi überzeugen konnte, ihm seine Etrog-Zitronat-Zitrone zu verkaufen. Die Schale der Frucht wird in den USA gern kandiert und für Kuchen verwendet.

Weil die Etrog koscher ist, ist sie bei orthodoxen Juden heiß begehrt – in New York werden sie mitunter für 25 Dollar das Stück gehandelt. Der Rabbi fürchtete zunächst Konkurrenz. Lester bekam die Pflanze nur, weil er eines nie tun würde: Seine Früchte verkaufen. Ihm geht es nicht ums Geld oder um gutes Essen, sondern ums Sammeln.

Er sei kein Gourmet, sagt Lester, sondern eine Sammlernatur. In seiner Garage stehen 14 Fords, Baujahr 1934, die er liebevoll restauriert hat. In seinem Haus ist jeder Zentimeter Boden mit Perserteppichen bedeckt, in Regalen an den Wänden stapeln sich bunte Flaschen, Dosen und tausende CDs. Wenn man ihn fragt, was seine Lieblingsspeise ist, dann sagt Lester: "Toast mit Erdnussbutter und Fruchtgelee." Nur selten isst er eine seiner Früchte selbst. Dafür beglücken sie andere.

Ein Sternekoch als Jünger

Vor einigen Jahren erfuhr David Kinch, Chef des Zwei-Sterne-Restaurants Manresa im nahen Palo Alto, durch einen Artikel in einer Lokalzeitung von Lester und seiner Sammlung und fuhr zu ihm in die Berge. Beide, Kinch und Lester, entdeckten an dem Tag einen ihnen bisher unbekannten Schatz. "Es war das erste Mal, das jemand mit einem entwickelten Geschmack durch meinen Garten ging", sagt Lester.

Kinch kostete sich durch den Garten, war überwältigt und öffnete Lester die Augen für das, was er da besaß. Er zeigte ihm, dass eine seiner Blutorangen-Sorten intensiv nach Beeren schmeckt, wenn man ein bisschen aufpasst, oder was so toll an der geflügelten Limette ist. Seither bekommt Kinch Lesters gesamte Ernte – geschenkt.

Im Manresa sind Zitrusfrüchte deshalb ein wesentlicher Teil des Menüs: Kinch dehydriert Mandarinen und reicht sie zu grünem Spargel, ihre Säure balanciert die Gemüsenoten perfekt aus. Er reicht als Zwischengang einen Obstsalat aus 18 verschiedenen Mandarinen, damit die Gäste erfahren können, wie vielfältig diese Frucht sein kann; und seine Patisserie-Chefin hat sich in die obengenannte geflügelte Limette verliebt – sie benutzt sie für Kuchen und Eis.

Frucht-Geschichten

Regelmäßig kommt Kinch mit seinen Mitarbeitern zur Geschmacksschulung hinauf in die Berge zu Lester gefahren: Seine jungen Köche dürfen dann im Garten ihre Gaumen an den hunderten Früchten weiden. Den Rest der Ernte darf essen, wer ihn nett fragt und den Weg zu ihm in die Berge auf sich nimmt.

Solange er Lust hat, erzählt Lester seinen Besuchern dann allerlei über die Früchte. Etwa, dass Limetten nur unreif grün sind und mittels Farbstoffen im Gießwasser gefärbt werden, weil die Konsumenten sie grün haben wollen. Wenn er müde wird und seine Hüfte zu schmerzen beginnt, geht er ins Haus und lässt seine Gäste allein weiterschlemmen.

Lester begann in den 1950er-Jahren beim Flugzeughersteller McDonnell Douglas als Programmierer und half, Flugbahnen für die Apollo-Missionen der Nasa zu berechnen. Dann arbeitete er mehrere Jahrzehnte in der goldenen Zeit bei IBM und später, nach einer Art Golden Handshake, als Konsulent. Als ihm mit Mitte 60 die Zeit fehlte, all das verdiente Geld auszugeben, widmete er sich nur mehr seiner Sammelleidenschaft.

Kampf gegen die Zitrusseuche

Gern würde er seine Zitrussammlung ausbauen – doch das ist derzeit unmöglich. Dieses Jahr hat die sogenannte HLB-Krankheit erstmals Kalifornien erreicht, vermutlich wurde sie von Mexiko aus eingeschleppt. Die Seuche rafft seit Jahren Zitrusbäume auf der ganzen Welt dahin, von Südostasien aus arbeitete sie sich nach Süd- und Mittelamerika vor. Heilung gibt es bisher nicht: Wenn ein Baum befallen ist, muss er gefällt und verbrannt werden.

Um die Ausbreitung möglichst zu verhindern oder zumindest hinauszuschieben, hat Kalifornien sehr strenge Regeln für die Einfuhr von Zitruspflanzen erlassen. Ein neues Gewächs muss erst zwei Jahre in Quarantäne, bis es für gesund erklärt wird und ausgesetzt werden darf. In dieser Zeit verenden viele der importierten Pflanzen. Die Blutmandarine wird für Lester daher vorerst wohl ein Traum bleiben. (Text & Fotos: Tobias Müller, DER STANDARD, Feinkost)