Thronfolger Franz Ferdinand fiel am 28. Juni 1914 in Sarajevo den Kugeln Gavrilo Princips zum Opfer. Die Ermordung des Erzherzogs rief, ungeachtet ihrer bösen Folgen, bloß gedämpfte Trauer hervor. Es blieb Fackel-Herausgeber Karl Kraus (1874-1936) vorbehalten, Klartext zu reden. Kraus beklagte das Los eines Mannes, der seiner Zeit so weit hinterhergehinkt war, dass er ihr schon wieder voraus war. Er geißelte die Pflichtschuldigkeit der amtlichen Nachrufschreiber. Er befand seine Epoche für zu heruntergekommen, als dass die nüchterne Korrektheit des Thronfolgers - gewiss keines einnehmenden Mannes - zu ihr gepasst hätte.

Kraus verband mit Franz Ferdinand gewisse Hoffnungen. Zumindest hielt er ihn für den Garanten für ein "geordnetes Staatsleben". Sein Aufsatz Franz Ferdinand und die Talente erschien aktuell am 10. Juli 1914 in der Fackel. Das weithin unbedankte Amt des Zivilisationskritikers ließ sich Kraus gerne angelegen sein. Die Entlarvung des "gemütlichen Siechtums", das er in Österreich am Werk sah, verleitete ihn dazu, unbequeme, manchmal auch scheußliche Positionen einzunehmen. Seine Kritik am Pressewesen war wutschäumend. Sie veranlasste ihn dazu, den Liberalismus in Bausch und Bogen zu verdammen. Ein Konservativer wie Franz Ferdinand war ihm daher lieber als jeder "aufgeklärt" sich dünkende Pressemagnat. An Franz Ferdinand imponierte ihm, dass der "kein Grüßer" war.

Jeder Anflug von Freundlichkeit steht unter Generalverdacht. Weil Karl Kraus die Welt auf den Hund gekommen sah, erklärte er ihre verbindlichen Seiten zu Beweisen ihrer Schwäche. Was war von der Ehrlichkeit einer Gesellschaft zu halten, die ihre Pietät so weit vergessen hatte, dass sie den Leichnam des Thronfolgers im Kassenraum eines Bahnhofs ausstellte?

Es vergingen nur wenige Wochen, die dumpfe Beklommenheit vieler Zeitzeugen wich der euphorischen Gewissheit, in einer "großen Zeit" zu leben. Der Erste Weltkrieg entfesselte die schlimmsten Regungen, deren Kraus seine Landsleute seit je verdächtigt hatte. In dieser großen Zeit titelte er seinen großen Aufsatz in der Nummer 404 der Fackel (5. 12. 1914), brachten Taten Berichte hervor. Doch die Berichte verschuldeten ihrerseits Taten, die für die Bestialität der Zeit am beredtesten waren.

Diese "große Zeit" will Kraus schon gekannt haben, als sie ganz klein gewesen ist. Die ingeniöse Kunst des Formulierens erweckt den Eindruck, die Sprache führe den Kritiker an der Leine, nicht der Kritiker die Sprache.

Kraus bietet auf, was ihm die Sprache in die Hand gibt. Er wäre im Angesicht des Krieges lieber verschwiegen geblieben. Um nicht missdeutet zu werden, melde er sich zu Wort. Er meint, der Staat habe die günstige Gelegenheit verpasst, die "Pressfreiheit zu erwürgen". Doch der Schaden ist schon nicht mehr abzuwenden. Im Krieg und durch den Krieg erhält die Phrase Gelegenheit, Tatsachen zu schaffen. Indem die Gesellschaft ihre Kultur veräußert, liefert sie sie an die Zivilisation aus. Absatzgebiete werden zu Schlachtfeldern, um wieder neue Absatzgebiete hervorzubringen. Das Geistesleben ist in die Propaganda für die Ware abgewandert.

Die Unterwerfung der Welt unter die Wirtschaft, schreibt Kraus, "hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen". Das Leben? Ist nur ein Abdruck der Presse, die ihre Erzeugnisse frech an die Stelle der wirklichen Ereignisse pflanzt.

Das Verhängnis der wild zum Krieg entschlossenen Völker ist Ausdruck ihrer Fantasienot. Der Zeitgeist arbeite an der Verwandlung von Druckerschwärze in Blut. So tief wurzelt Kraus' Liebe zur Sprache, dass er deren Missbrauch die schlimmsten Gräuel zuschreibt. "Lasst mich die Presse überschätzen", ruft er. Das Entsetzlichste am Krieg sind die "Begleiterscheinungen" des Großen. Dichter werden unter dem Eindruck einer solchen "Größe" zu Journalisten. Sie verhalten sich wie andere Lohnschreiber, suchen ihr Heil in der Phrase. Sie vergleichen den Bau einer Festung mit einer schönen Frau. Die Größe der Zeit ist für Kraus das wahre Unterpfand ihrer Mickrigkeit. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 8.1.2014)