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Plötzlich an der Seite der Generäle: Der türkische Premier Erdogan will die Ergenekon-Prozesse neu verhandeln lassen.

Foto: APA/EPA/Oksuz

Ankara - Der Staat mag derzeit an allen Ecken und Enden wackeln, doch Tayyip Erdogan zeigt keinerlei Zweifel, dass er aus dieser Krise als unumschränkter Führer seines Landes hervorgehen wird. Er werde nicht zulassen, dass sich "ein Schatten auf die Zukunft der Türkei" lege, drohte der türkische Regierungschef in einer Ansprache an ausgewählte Medienvertreter, die im Fernsehen übertragen wurde. Die Justizermittlungen in den Korruptionsaffären, die sich auf seine eigene Familie ausgedehnt haben, nannte er dabei einen "versuchten Mordanschlag auf den Volkswillen".

Politische Beobachter im In- und Ausland haben eine andere Beschreibung für Erdogans aggressive Abwehr von Kritikern und Gegnern gefunden: Sie nennen es die "Putinisierung" der Türkei. Der seit elf Jahren regierende Premier versuche nun - gleich dem von ihm geschätzten russischen Präsidenten Wladimir Putin - die letzten Fesseln zu sprengen, die seine Herrschaft noch begrenzt hatten.

Die neue Allianz mit der Armee ist dabei die wohl bemerkenswerteste Wendung in den zurückliegenden Tagen. Der türkische Premier versprach der Militärführung nichts weniger als die Neuverhandlung der Hochverratsprozesse, bei denen im vergangenen Jahr rund 500 hohe Offiziere und Generäle zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren. Unter ihnen ist auch der frühere Armeechef Ilker Basbug. Er soll nach Auffassung der Richter einer geheimen Terrororganisation vorgestanden sein, was selbst der Regierung in Ankara, die mit Basbug von 2008 bis 2010 zusammengearbeitet hatte, einigermaßen absurd erscheint, aber bis vor wenigen Tagen noch mit Hinweis auf die Unabhängigkeit der Justiz akzeptiert worden war.

Sondergerichte sollen abgeschafft werden

Nun will Erdogan per Parlamentsbeschluss die Sondergerichte abschaffen, die seine Regierung zuvor eingerichtet hatte. Mit diesem Schritt sollten dann auch die Urteile in den "Ergenekon"-Prozessen annulliert werden, so stellen es sich Premier und Armeeführung vor. Basbug und viele andere könnten nach Neuverhandlungen freikommen.

Die Türken reiben sich die Augen: Die Entmachtung der türkischen Armee zählt zu den großen politischen Siegen der konservativ-religiösen Regierung von Tayyip Erdogan. Dreimal hatten die Generäle geputscht, 1997 die Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan zum Rücktritt gezwungen und 2007 die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern versucht. Die Justizermittlungen über die angeblichen Putschpläne des Geheimbundes Ergenekon waren dabei das Vehikel im Kampf der gewählten Regierung gegen die Armee. Die sah sich stets als Hüterin der säkularen Republik.

Seit die Korruptionsaffären der Regierung Mitte Dezember ruchbar wurden, änderte sich mit einem Schlag auch die offizielle Darstellung der Ergenkon-Prozesse. Nun waren es Richter und Staatsanwälte, die dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen angehören sollen, die für überzogene Urteile gegen das Militär verantwortlich waren, und nicht länger die "unabhängige" türkische Justiz. Eben jene, angeblich von Gülen infiltrierte Kreise in der Polizei und Justiz hätten auch die Razzien am 17. Dezember veranlasst. Zwei Ministersöhne und der Manager der mehrheitlich staatlichen Halkbank sind weiter in Haft. Vier belastete Minister verloren ihr Amt.

Sohn Bilal im Visier

Aller Selbstsicherheit zum Trotz, die Erdogan - er wird im Februar 60 Jahre alt - nun zur Schau trägt, ist der Fortgang dieser Regimekrise unklar. Technisch gesehen steht Erdogans jüngerer Sohn Bilal weiter auf der Liste der Istanbuler Staatsanwaltschaft. Bilal Erdogan hatte bis zum 2. Jänner Zeit, zu einem Vernehmungstermin zu erscheinen; sein Vater ließ den ermittelnden Staatsanwalt von diesem Fall abziehen. Erledigt ist die Angelegenheit damit nicht. "Artikel 138 der Verfassung ist in diesem Land ausgelöscht worden", stellte Parlamentspräsident Cemil Çiçek, eigentlich ein Gefolgsmann Erdogans, fest; Artikel 138 schreibt die Unabhängigkeit der Justiz fest und untersagt ausdrücklich Weisungen an Richter.

Illegale Baugenehmigungen, Annahme von Bestechungsgeldern und Umgehung der Finanzsanktionen gegen den Iran durch Goldschmuggel sind andere Vorwürfe, die die Justiz offenbar gegen die Regierung erhebt. Niemand im Führungskreis der Regierungspartei AKP scheint interessiert, das Boot zum Kippen zu bringen. Doch alle Augen richten sich auf Abdullah Gül. Der stets auf Harmonie bedachte Präsident soll Erdogan zur Räson bringen und könnte im August an dessen Stelle für eine zweite Amtszeit als Staatschef kandidieren - ein Szenario, das Gülens Anhänger seit längerem favorisieren. (Markus Bernath, DER STANDARD, 7.1.2014)