Shakoor Abdul, selbst als Kind geflohen, arbeitet heute bei Nadir.

Foto: Fabian Eder

Pasta. Giovanni wird im Mai seine Freundin Cettina heiraten. Auf der Suche nach der Art, wie die Menschen am südlichen Rand Europas leben, bitten wir sie, für uns ein einfaches, aber typisches Gericht zuzubereiten. Sie wählt Pasta aglio, olio e peperoncino und kocht Bavette, also breitere Spaghetti. Knoblauch wird geschnitten und kommt zusammen mit getrockneten Tomaten ins kalte Olivenöl aus Großvaters Garten. Dazu ein wenig Chili, vorzugsweise aus Kalabrien, sagt Cettina. Wenn die Pasta fertig gekocht ist, kommt sie in dieselbe Pfanne. Erst dann wird alles über kleiner Flamme durchgemischt und serviert. Das Einfache, sagt Cettina, sei eben immer das Beste.

Dem Zenit gegenüber

Giovanni hat Nadir vor sieben Jahren mit einem Kollegen gegründet und kümmert sich, ähnlich wie die Associazione, von der wir schon berichtet haben, um Jugendliche. Nicht ausschließlich, aber mittlerweile hauptsächlich um Migranten. Der Name "Nadir" kommt aus dem Arabischen und bezeichnet jenen Punkt, der dem Zenit gegenübersteht. Shakoor Abdul, dessen Vater pakistanischer Gastarbeiter in Libyen ist und dessen Mutter in Pakistan lebt, kam nach der Überfahrt direkt hierher. Heute arbeitet er bei Nadir und ist eine wichtige Hilfe. Alhagie Tamba Fatty kam aus Gambia, er hat seine ganze Familie verloren. "Wenn du ihnen nicht passt, dann töten sie dich", stellt er emotionslos fest.

Sie kamen alle mit Booten, die meisten von der libyschen Küste, und die meisten von ihnen landeten zuerst auf Lampedusa, ehe sie weiter nach Sizilien gebracht wurden. Nadir belegt ein Stockwerk in einem kleinen Mehrfamilienhaus am Rande von Campobello di Licata. Ein paar Zimmer entlang des Flurs, das Notwendigste ist da, aber nicht mehr. Von dem, was wir unter Wohlstand verstehen, ist hier jedenfalls keine Spur. "Das Geld, das ist eine eigene Geschichte ...", beklagt er die Zahlungsmoral des Staates.

Ähnliche Geschichten

Ein bisschen Farbe, Kleinigkeiten, die die Räume wohnlich machen, ihnen eine persönliche Note verleihen, Versuche, sich ein neues Stückchen Heimat zu schaffen, zumindest für eine Weile. Die Jugendlichen haben warme Jacken an, denn wenn es regnet, kann es hier heroben im Winter unangenehm feuchtkalt werden. Die Leute im Ort seien alle sehr nett, Probleme gebe es nicht, sagt Alhagie, der erst im vergangenen Oktober über Lampedusa kam.

Außer herumspazieren könnte er im Moment nicht viel machen, arbeiten dürfte er noch nicht, und durch die Feiertage gebe es im Moment auch keinen Unterricht. Ihre Geschichten sind einander immer ähnlich – Verfolgung, Krieg, Misshandlung, Armut, Aussichtslosigkeit sind die Gründe dafür, dass sie diese Reise auf sich nehmen in der Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. Sie lachen gerne, sind freundlich und zuvorkommend. Als Minderjährige haben sie es vergleichsweise gut erwischt – sie dürfen nicht zurückgeschickt werden.

Espresso, schwarz

Ein Kellner in einer Bar erzählt mir ungefragt, wie unermesslich groß die Probleme Italiens mit den Migranten seien, sie hätten selbst so viele Arbeitslose in Neapel, Palermo oder Rom, die nichts zu essen hätten und keine Kleidung. Die Zahl steigt von Satz zu Satz und formt sich zu einem bedrohlichen Monster, italienische Gestik und weit aufgerissene Augen unterstreichen alles anschaulich. Da ich nicht antworte, sondern nur zuhöre, hebt er schließlich noch einmal Augenbrauen und Schultern, als wolle er sagen: "Was kann man da machen?!", und lässt mich dann mit meinem Espresso allein.

Zeit für ein Resümee

Fünf Wochen waren wir unterwegs, und wenn man Lampedusa unbedingt zu Italien zählen will, dann haben wir nur drei Länder besucht. Ich bin überrascht, wie unterschiedlich diese Länder sind, ihre Menschen, ihre Kultur, ihre Mentalität. Das habe ich so nicht erwartet, liegen sie doch auf den ersten Blick im selben geografischen Raum und haben sehr ähnliche Lebensbedingungen.

Wir haben mit vielen Menschen gesprochen und eine Menge Meinungen gehört, Lebensgeschichten und Schicksale. Wir sind intelektuellen, wissenschaftlichen, religiösen, politischen und humanitären Betrachtungsansätzen begegnet und finden bestätigt, was in der Asyl- und Flüchtlingsdiskussion in Europa bekannt ist, aber ungehört bleibt: Es gibt keinen Grund, die Migration zu fürchten, sie ist natürlich und notwendig.

Lampedusa ist keine Insel

Abgesehen von dieser Erkenntnis, die, wenn man sie nur ausspricht, bereits einen Aufschrei auslöst – was bleibt? Tagtäglich kommen auch im Winter Boote, und sie werden weiterhin kommen. Gesetze, wie jenes berüchtigte faschistische Bossi-Fini-Gesetz, können das nicht verhindern, sie bewirken nur eines: menschliche Katastrophen, Tragödien und Leid. Europa zur Festung zu machen heißt, Europa in eine Insel zu verwandeln und das Meer in einen Friedhof.

Feigheit

Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin Lampedusas, hat die Feigheit der Politiker angesprochen. Sie verabsäumen es, den Wählern Tatsachen und Notwendigkeiten mitzuteilen. Irrationale Ängste lassen sich spielend leicht schüren, aber nur schwer wieder ausräumen – und die Angst vor den Ängstlichen und das Bangen um Stimmen erzeugt einen verhängnisvollen Strudel, von dem auch die politischen Kräfte der Mitte bedroht sind.

Doppelzüngigkeit

Zur Bestattung der vor Lampedusa ertrunkenen Flüchtlinge aus Eritrea wird das Staatsoberhaupt jenes Landes eingeladen, aus dem die Menschen flüchten mussten. Die Überlebenden der Katastrophe durften hingegen an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen. Was für ein Signal ist das und an wen?

Berlusconi bezahlte Gaddafi, damit dieser verhindert, dass Flüchtlinge Libyen verlassen können, und noch heute beschießen verwirrte libysche Milizeinheiten Boote, die randvoll mit wehrlosen Menschen sind – ob sie wohl auch Geld dafür bekommen und von wem wohl? Derselbe ewigjunge Strahlemann ließ sich bejubeln, als er verkündete, Lampedusa von den Ausländern zu befreien – obwohl dort die Flüchtlinge nur erstversorgt werden und dann ohnehin weiterreisen. Aber es klingt gut. Mit solchen Schmähs funktioniert diese Politik, in Österreich durch eine misanthrope und xenophobe FPÖ, in Italien zum Beispiel durch die Lega Nord.

Träumer

Wer glaubt, dass sich durch eine billige und kurze "Wir machen dicht"-Parole irgendwas ändert, ist ein realitätsferner Träumer. Worin liegt der Grund für die abenteuerliche, riskante und lebensgefährliche Flucht aus diesen Ländern? Weil es so toll ist, für immer seine Heimat, Familie, Freunde zu verlassen? Oder liegt es vielleicht daran, dass sich eine Wohlstandsgesellschaft auf unmoralische, unchristliche und unmenschliche Art und Weise in diesen Ländern selbst bedient? Dass unsere Regierungen und Wirtschaftsunternehmen mit Diktatoren Geschäfte machen, im vollen Bewusstsein, dass sie damit Verfolgung, Krieg und Elend in diesen Ländern – sozusagen als Abfallprodukt – erzeugen?

Politisches Kleingeld

Wozu Moral, wenn man doch so schön aus der Situation Kapital schlagen kann? Der schwarze Mann, das fremde Wesen, das unseren Wohlstand und unsere Kinder bedroht – ein bewährter Trigger. Und wenn die Flüchtlinge hellerer Hautfarbe sind, wie im Falle der Syrer, hilft die Einteilung in Religionszugehörigkeit beim Stimmenfang, wie uns eine österreichische Innenministerin im Wahlkampf lehrte (ich spreche vom Wahlkampf 2013, um historische Verwechslungen zu vermeiden). Wie bezeichnet man die politische Einteilung von Menschen nach Hautfarbe und Religionszugehörigkeit? Wann war das, als der Humanismus noch weiter entfernt war?

Die Bewegung von Menschen ist natürlich

Die Asyl- und Migrationspolitik darf nicht länger Sache der Nationalstaaten bleiben, sie gehört in die Hände des Europäischen Parlamentes. Nur dieses Organ ist demokratisch dazu legitimiert, eine gemeinsame, einer politischen Union der Bürger entsprechende Handlungsweise zu entwerfen und umzusetzen. Gesetze wie jenes von Bossi und Fini, die Lebensretter kriminalisieren und Menschen ihrer Grundrechte und ihrer Würde berauben, darf eine politische Europäische Union nicht dulden – und zwar keine Sekunde lang.

Die Dublin-II- und Dublin-III-(Schengen-)Abkommen müssen, was die Verantwortung und Betreuung von Migranten angeht, umgehend außer Kraft gesetzt werden. Von Verantwortung und Solidarität kann und darf sich der "reiche Norden" nicht freikaufen. Es muss möglich werden, legal nach Europa einzureisen und unter menschenwürdigen Bedingungen um Asyl- oder Bleiberecht anzusuchen und eine Existenz aufzubauen.

Integration statt Seperation

Menschen, die hinter Zäunen sitzen und nicht arbeiten, ihrem Leben keinen Sinn geben dürfen, haben keine Chance, sich zu integrieren. Sprache, Kultur, Gepflogenheiten eines anderen Landes kann nur kennenlernen, wer am Leben dieser Gesellschaft teilnehmen darf.

Rumänische Neger

Und dann war da noch jenes sagenhafte Gespräch mit einem jungen Mann in Malta, der mir erklärte, dass es "Legale" – Rumänen, Bulgaren, Russen – und "Illegale" – die aus Afrika – gebe. Beide würden den Maltesern Arbeit wegnehmen, eine für das Land untragbare Situation. Sie alle würden billiger arbeiten als die Einheimischen, die Illegalen zudem keine Steuern bezahlen. Für eine solch schlichte Betrachtung ist es also nicht zwingend notwendig, sich vorher mit einem Säbel das Gesicht aufzuschlitzen. Bemerkenswert.

Drei bis fünf Euro, erfuhr ich unter der Hand, würden manche, nicht pro Stunde, sondern für einen ganzen Tag Garten- oder Bauarbeit bekommen – "schwarz", wie man so schön sagt. Auf Empörung über diejenigen, die diese Arbeitskräfte illegal beschäftigen und unter der Hand bezahlen, bin ich übrigens nicht gestoßen. Verwundert?

Einfachheit

Cettinas Pasta schmeckt nicht nur himmlisch, sie erinnert mich auch an Antonino auf Lampedusa, der mir vom einfachen Gesetz der Fischer erzählt hat: Wenn jemand in Not ist, dann helfen wir. Basta. Vielleicht ist also das Problem gar nicht so schwierig zu lösen, wie es in der Diskussion dargestellt wird? Vielleicht sollten wir einfach auf unser Herz hören, wenn vor unseren Augen Menschen ertrinken.

Heimat?

Ich habe all meine Gesprächspartner danach gefragt, was Heimat für sie bedeutet. Die Antworten werden in dem Film, den wir über diese Reise gedreht haben, noch im Laufe der kommenden Monate zu sehen und zu hören sein, genauso wie viele interessante Gespräche mit direkt und indirekt Betroffenen, mit Politikern, Vertretern von NGOs und einfachen Leuten.

Vorerst aber endet unsere Reise hier, und ich verabschiede mich mit ebendieser Frage an die Leser: Was bedeutet Heimat für Sie? (Fabian Eder, derStandard.at, 7.1.2014)