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Neue Hauptbibliothek der Stadt Wien.

Foto: Reuters/Prammer
Wien - "Wenn wir auf Urlaub fahren, geben die in der Hauptbibliothek sicher eine Vermisstenanzeige auf", grinst der Vater von Ruth. Denn die 15-Jährige hat das Innere des neuen Flaggschiffes der Gürtelbauten zu ihrem zweiten Wohnzimmer erkoren. Nachmittage und in den Ferien ganze Tage lang sitzt sie in der Hauptbibliothek und schmökert in sich hinein, was ihr zwischen die Finger kommt. Auf die Frage, was sie denn so lese, gibt's meist eine lapidare Antwort wie: "Alles."

Die neue Aussicht weiter oben interessiert sie nicht sonderlich - ihre Welt findet sie zwischen den Zeilen. Dabei bietet das Bibliotheksdach eine Perspektive, die man vom Gürtel aus so noch nicht kannte. Wenn man da oben auf dem hochseedampferähnlichen Gebäude steht, taucht auf einmal der Wienerberg aus dem Häusermeer auf. Auf der anderen Seite der Bibliothek ist mit einem mal der Kahlenberg in Sicht. Auch der direkte Blick hinunter eröffnet neue Einsichten - auf das technische "Innenleben" der "Ulf"-Straßenbahndächer. Jetzt ist zu sehen, dass oben alles untergebracht wurde, was bei dieser Niederflur-"Bim" unter dem Boden eingespart wurde.

Baulicher und optischer Abschluss einer Entwicklung

Die Hauptbibliothek ist baulicher und optischer Abschluss einer Entwicklung, die mit der Revitalisierung des Gürtels begann. Vor ein paar Jahren noch zog es fast ausschließlich das schaulüsterne Publikum an den Gürtel. Aber nach dem Einzug der neuen, teils schicken Lokale in die Stadtbahnbögen hatte sich der Straßenstrich rasch in dunklere Straßen im Umfeld zurückgezogen - in die Goldschlag-, März- und Hütteldorfer Straße etwa. Welcher Freier würde schon am Gürtel seine Runden drehen, wenn seine Kinder im Lokal gegenüber im Schanigarten sitzen könnten.

Der - räumliche - Höhepunkt der neuen trendigen Gürtelszene ist jetzt das Lokal auf dem Dach der Bibliothek.

Vom verkommenen Tiefpunkt am Horizont - dem vergammelten Hotel auf dem Gipfel des Kahlenbergs - sieht man vom Gürtel aus kaum etwas. Dafür wäre der Ausblick vom Kahlenberg ein mindestens ebenso toller. Dass dieser Kahlenberg-Blick über Wien bereits im "Mann ohne Eigenschaften" beschrieben wird - diese Perspektive könnte Ruth auch im Inneren der Gürtelbibliothek kennen. Sofern sie während ihrer Schmökerstunden den Musil-Wälzer schon in ihre Finger bekommen hat. (Roman Freihsl/DER STANDARD, Printausgabe, 12.8.2003)