Gangl: "Das Auge als Organ ist ein Werkzeug, das uns ermöglicht, Distanzen zu überwinden."

Foto: Sonja Gangl CAPTURED ON PAPER_eyes (Karla), 2013
Foto: Sonja Gangl CAPTURED ON PAPER_eyes (Murder She Said), 2013
Foto: Sonja Gangl CAPTURED ON PAPER_eyes (Psycho 1), 2011
Foto: Sonja Gangl CAPTURED ON PAPER_eyes (Alphaville), 2012

Sie ist historisch die erste Frau, der die Albertina eine museale Einzelausstellung widmet: die Konzeptkünstlerin Sonja Gangl. Die aktuelle Schau "Dancing with the End" präsentiert großformatige Zeichnungen von menschlichen Augen. Ihnen gegenübergestellt sind Arbeiten ihres Werkzyklus "Captured on Paper_The End", in denen die gebürtige Grazerin Schlussbilder zumeist bekannter Kinofilme in das Medium Zeichnung transformiert. Im Interview mit Dagmar Buchta spricht die Künstlerin über die Intention ihrer Arbeit, Unsichtbares und Sichtbarkeit sowie über konsumistisches und sexuelles Begehren.

dieStandard.at: Sie sind die erste Frau mit einer Einzelschau in der Albertina. Wie fühlt sich das an?

Sonja Gangl: Dass eine Frau in der Albertina ausstellt, ist schon lange überfällig. Ich finde es gut, dass Klaus Albrecht Schröder und sein Team sich dazu entschlossen haben, nun auch Einzelpräsentationen von Frauen zu zeigen. Dass ich den Anfang mache, freut mich natürlich sehr.

dieStandard.at: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Künstlerinnen an diesem Ort bisher keine Einzelschauen gewidmet wurden?

Gangl: Diese Frage muss man an die Institutionen richten. Wenn man sich die Rankings des internationalen Kunstmarktes ansieht, findet man unter den Top-100-KünstlerInnen nur 15 Prozent Frauen. Aber dieser Prozentsatz wird sich ganz bestimmt signifikant erhöhen.

dieStandard.at: Das klingt optimistisch.

Gangl: Es hat sich ja schon viel zum Positiven verändert, was sicher dem feministischen Diskurs zu verdanken ist. Noch in den 50er-Jahren wurden Arbeiten von Künstlerinnen kaum ausgestellt.

dieStandard.at: In der aktuellen Schau werden überdimensionale Augen den Schlussszenen von Filmen gegenübergestellt. Geht es Ihnen dabei um Reflexion im Sinne von Abbildung des Gesehenen?

Gangl: In meiner aktuellen Arbeit löse ich einzelne Filmstills aus dem Medium Film und übertrage sie in das Medium der Zeichnung. So entstehen Zeichnungen, die als Referenzraum immer das Medium Film haben. In letzter Zeit habe ich begonnen, die Augen von FreundInnen zu fotografieren und diese dann zu zeichnen. Hier ist der Referenzraum die Fotografie mit einem biografischen Aspekt. Im Film ist die Darstellung von Augen immer etwas Besonderes. Dabei öffnet sich ein riesiger Raum von Zeichen und Referenzen. Beginnend mit der Vorstellung von der Analogie von Auge und Kamera und der Fantasie, beim Sehen eines Films von diesem gleichzeitig auch "gesehen" zu werden. David Cronenberg in "Videodrome" und Woody Allen in "The Purple Rose Of Cairo" haben diese Fantasie durchgespielt.

dieStandard.at: Geht es dabei auch um die Symbolik von Nähe und Distanz?

Gangl: Das Auge als Organ ist ein Werkzeug, das uns ermöglicht, Distanzen zu überwinden. Aufgrund seiner Verletzbarkeit ist es gleichzeitig ein Organ, das wir maximal schützen müssen, von dem wir die Dinge also auf Distanz halten müssen. Das Thema der Arbeit ist deshalb auch Distanz und ihr Gegenteil Distanzlosigkeit.

Wir feiern ja jedes technologische Hilfsmittel, das zeitliche und geografische Distanzen aufhebt und verstehen darunter einen Gewinn an Authentizität und Unmittelbarkeit. Dabei vergessen wir aber, dass wir zu allen und jedem eine bestimmte Distanz einnehmen müssen. Viele Dinge lassen sich aus größerer Distanz besser erkennen.

dieStandard.at: In "Captured on Paper_The End" beschäftigen Sie sich ausschließlich mit Film-Enden. Welche Absicht verfolgen Sie damit?

Gangl: Als ich 1991 begonnen habe, mich mit Schlussbildern von Spielfilmen zu beschäftigen und diese Bilder zu sammeln, hat mich anfänglich nur die Typografie interessiert. Dann hat mich das Spannungsverhältnis von Schrift und Bild interessiert, und welches Bild als das letzte ausgewählt wird. Das Schlussbild eines Films steht genau an der Schnittstelle von Illusion und Realität, also der Illusion des Films und der Realität des Kinosaals. Das Schlussbild ist für uns ZuseherInnen eine Art Tür, durch die wir den Film verlassen und unser Alltagsleben wieder betreten. Wichtig ist natürlich, was wir mitnehmen, wenn wir durch diese Tür hindurchgehen.

dieStandard.at: Drückt der Medientransfer von Film auf Zeichnung so etwas wie das Anhalten des Vergänglichen aus?

Gangl: Nein, mir geht es nicht um ein "Verewigen" oder "Anhalten der Zeit", mir geht es nicht um irgendeine nostalgische Perspektive. In den Zeichnungen beschäftige ich mich mit dem Transfer einzelner Motive und Bildelemente von einem künstlerischen Medium in ein anderes. Dabei versuche ich, die dargestellten Motive mit großer Exaktheit wiederzugeben. Man erkennt die Motive unmittelbar wieder, jedoch ändert sich dieser Eindruck sofort, wenn man sich den Zeichnungen nähert: die Schraffur und Textur der Blei- und Buntstifte tritt in den Vordergrund, der Bildtypus wird ein vollkommen anderer als die Vorlage.

dieStandard.at: Hat das Zeichnen von Schlussszenen noch immer mit Ihrem Schlüsselerlebnis als 12-Jährige zu tun? In einem ORF-Interview meinten Sie, dass der Hitchcock-Film "Rebecca" Sie zum Zeichnen animiert hat.

Gangl: Während des ganzen Films war die Titel gebende Hauptrolle Rebecca nie zu sehen. Das hat mich damals wahnsinnig fasziniert und war mitunter ein Grund, dass ich unentwegt gezeichnet habe nach dem Film. Heute ist das anders. Ich zeichne nicht um des Zeichnens willen. Alle Arbeiten aus der Serie „The End" sind konzeptuell angelegt. Außerdem besteht dieser Werkzyklus nicht nur aus Zeichnungen, sondern auch aus der filmischen Rückführung der Zeichnung in den Film.

dieStandard.at: Den Namen der unsichtbaren Titelheldin haben Sie später im Projekt "REBEKA International" weiter geführt. Worum ging es bei dieser Arbeit?

Gangl: In "REBEKA International" - einem fiktiven Label für Mode und Design - habe ich mich mit verschiedenen Produktionsformen und Ästhetiken auseinandergesetzt. Die Produktlinie von "REBEKA" orientierte sich an gesellschaftlichen Wertvorstellungen, wie sie etwa in modischen Objekten, Inseraten in Zeitschriften oder Freizeitaktivitäten zum Ausdruck kommen. Als Label und Logo produzierte "REBEKA" die Versprechen unserer Imagekultur. Gleichzeitig habe ich versucht, ein urbanistisches Konzept zu verfolgen. Wie vermittelt sich eine Stadt als Agglomeration und Synthese unterschiedlicher NutzerInnen und Handlungsspielräume? Dabei sollte ein Netzwerk von Beziehungen aufgebaut werden, das unterschiedliche Produktionsformen ebenso integriert wie die Anbindung an unterschiedliche Orte und Bezirke.

dieStandard.at: Walter Seidl schrieb, dass Sie mit "REBEKA" den "Prozess der Aneignung einer spezifischen Identität, die KäuferInnen bestimmter Marken sich mit dem Erwerb des Objekts ihrer Begierde zu eigen machen glauben" entlarven. Inwieweit ist konsumistische Begierde Ihrer Meinung nach konstruiert?

Gangl: Das Begehren ist zu hundert Prozent konstruiert und wird zu hundert Prozent von der Mode-/Lifestyle-/Film-/Design-/etc-Industrie gesteuert. Was wir für unsere selbst bestimmte Subjektivität halten, ist höchstens noch unsere hohe oder geringe Kaufkraft.

dieStandard.at: Sind konsumorientiertes und sexuelles Begehren vergleichbar?

Gangl: Sie sind nicht dasselbe, aber sie sind ineinander verschränkt, in dem Sinn, in dem jedem Konsum ein erotisches Moment innewohnt und jedem sexuellen Begehren ein Habenwollen.

dieStandard.at: Habenwollen im Sinne von Sehenwollen, aber nicht dürfen, wird in Ihrer Werkreihe "Letterboxing" thematisiert. Darin beschäftigen Sie sich mit Zensur?

Gangl: Ich überdecke bestimmte Bildausschnitte. Früher gab es bei pornografischen Darstellungen diesen schwarzen Zensurbalken. Das kehre ich um und mache daraus gleichsam einen Sichtbalken.

dieStandard.at: In Ihrer Filmarbeit "XXX_Movie" behindern Sie mittels eines schmalen Sehstreifens die Sicht auf den Pornofilm "Deep Throat". Üben Sie mit der Einschränkung der pornografischen Schaulust Kritik?

Gangl: Wenn ich pornografisches Bildmaterial verwende, dann tue ich das, um das „Sehen" selbst zu thematisieren. Ich thematisiere Voyeurismus, bzw. das, was Sigmund Freud Skopophilie genannt hat, also jene Schaulust, die uns angeboren ist und Teil unserer Sexualität ist. Ich treffe keine moralischen Aussagen. Ich urteile nicht. Ich nehme pornografisches Bildmaterial und werfe es gleichsam zurück. (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 2.1.2014)