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Immer schneller, weiter, höher: "Als völlig normal gilt dieser Tage der historisch einmalige Kometenregen an Eindrücken und Aufgaben, der täglich auf unser Nervensystem einprasselt."

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Thomas Sautner.

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So also leben wir dieser Tage? Im Nahkampf mit einer sich immer schneller drehenden Welt? Mit mehr Druck, mehr Stress, mehr Kälte und Oberflächlichkeit? Immer öfter jeder gegen jeden, und alle wissen, an mir liegt es nicht?

Müssen wir ständig mehr Kraft aufbringen, um nicht unterzugehen? Um wie viel fitter, klüger, flexibler, belastbarer, ausgebildeter, leistungsstärker müssen wir noch werden? Leidet tatsächlich schon jeder Vierte an den psychischen Folgen unserer Normalität?

In scheinbar unaufhörlicher Beschleunigung befindet sich die IT-basierte Kommunikation, steigt der globale Wettbewerb, der Zeit- und Leistungsdruck. Ebenso als völlig normal gilt dieser Tage der historisch einmalige Kometenregen an Eindrücken und Aufgaben, der täglich auf unser Nervensystem einprasselt. Immer mehr Inputs verlangen uns immer mehr Output ab. Reicht das schon aus, um uns mürbe zu machen, uns gar in den Wahnsinn zu treiben?

Niemals zuvor jedenfalls waren wir Menschen derart außer uns. Fürs Innehalten bleibt kaum Zeit, und in der wenigen fehlt - wieso nur? - mit einem Mal die Muße. Beinahe überall und ohne Unterlass sind wir erreichbar, abrufbar für die Außenwelt, und alles ist immens wichtig und dringend und dramatisch.

Unsere Gedanken sind entsprechend am Rotieren - immer öfter auch nachts. In Europa leidet jeder Fünfte unter Schlafstörungen, noch häufiger betroffen sind Jugendliche. Zu viele unerledigte Gedanken in Kopf und Seele. Gedanken - die Buddhisten sagten von ihnen schon zu einer Zeit, als es noch gemächlicher zuging, sie glichen Affen, die herumspringen und kreischen und uns so daran hindern, die Wirklichkeit zu erkennen. Und was haben wir gelernt aus diesem jahrtausendealten Wissen? Wir geben dem Affen Zucker. Teilen uns mit per Facebook, per SMS, chatten, bloggen, twittern, posten, e-mailen. Ob das noch wir sind? Passt deshalb unsere Hülle so wenig wie noch nie zu unserem Kern?

Herausfordernd auch die gefühlt täglich neuen bürokratischen Anforderungen, Einschränkungen, Regeln, Vorschriften, Codes of Conduct, mit denen der Staat und die Gesellschaft - also wir selbst - aus uns bessere, risikobewusstere, korrektere, sozial besser funktionierende, wirtschaftlich kompatible Menschen machen wollen. Wie kommt es nur, dass so viele von uns infolgedessen immer noch gereizter wirken anstatt besonnener?

In ähnlichem Tempo wie die gesellschaftliche Optimierung läuft die wirtschaftliche. Und weil die bekanntlich weltweit im Gange ist, reicht es, dass wir in China gekündigt werden (weil computergesteuerte Maschinen unsere Arbeit nun billiger erledigen), damit wir in Europa länger, flexibler und günstiger arbeiten müssen. Andernfalls reduzierte sich unsere Rendite als Unternehmer, Aktionär, Anleihezeichner und Pensionsfondsnutzer, was wir naturgemäß zu verhindern suchen. Dass wir uns solcherart gegenseitig an die Wand lizitieren (und sich immer weniger von uns ins Fäustchen lachen können), haben wir längst schmerzlich bemerkt, finden aber die Stopptaste nicht.

Das und alle anderen Entwicklungen, zu denen wir - es dämmert uns - auf die eine oder andere Weise beigetragen haben (und weiter beitragen), nagen an uns. Ärgerlich zudem, dass wir nicht wissen, was wir dagegen unternehmen können. Und wogegen denn überhaupt? Die Globalisierung? Die IT-Dynamik? Die Big-Data-Überwachung? Den Kapitalismus? Die Politik? Der Gegner ist so schrecklich unüberschau- bar geworden, so diffus und ungreifbar! Bleibt uns denn nur noch der Kampf gegen Windmühlen?

Machen wir einmal einen vermeintlichen Feind aus, der nicht virtuell ist, kann es schon geschehen, dass wir unseren latenten Frust an ihm abarbeiten. Ideal freilich sind Minderheiten, die deutlich als minder zu erkennen sind: Ausländer, Linke, Rechte, Fans des falschen Fußballvereines. Immer öfter geraten aber auch die Unscheinbarsten von uns, die biedersten Bürger aneinander - aus den nichtigsten Anlässen: im Straßenverkehr, in der U-Bahn, im Supermarkt. Schon ein Häufchen vom nachbarlichen Hund im Vorgarten reicht heutzutage für eine Anzeige (kein fiktives Beispiel), das Reversieren vor einer Einfahrt für eine Besitzstörungsklage (detto). Was geht da vor? Haben wir nur noch die Wahl zwischen aggressiv oder depressiv? Macht die von uns miterschaffene Welt das nun einmal aus uns?

Dabei sind wir besonders nach außen hin doch so moralisch dieser Tage. Unsere Empörung reicht weit wie nie. Klar, am Großen und Ganzen können wir nichts mehr ändern, wir sind ja Realisten. Aber wenn es etwas Böses zu verbieten gilt, ist auf uns Verlass. Wir sind gegen Glücksspiel, Rauchen, Trinken, Prostitution, und wenn es sein muss, sogar gegen Plastiksackerln, die wir schließlich selbst gern verwenden. Ja, der Sheriff in uns macht mitunter selbst vor uns nicht halt. Dass beispielsweise unsere Telefonate mitgeschnitten werden - in Gottes Namen, soll es halt sein. Gestern hielten wir das Gerede von Rund-um-die-Uhr-Überwachung plus Law and Order zwar noch für unrealistische Panikmache, für absurde Verschwörungstheorie, heute aber empfinden wir all das ohnehin schon als ganz normal. Wir sind schließlich nicht weltfremd. Außerdem glauben wir nach wie vor, nichts zu verbergen zu haben. Man muss eben etwas vorsichtiger werden, muss ja nicht gleich zu einer Demo rennen oder sich sonst irgendwie auffällig verhalten. Schluss mit unserer Toleranz wäre erst, wenn sie uns den Schweinsbraten verbieten, oder wir auf Autobahnen nur noch 80 fahren dürften. Allerdings, genau genommen wäre ja auch das nur zu unserem Besten.

Orientierungssinn? Wozu?

Weniger heikel ist es, für eine Frauenquote in Unternehmen zu sein, und wäre jemand konsequent und fragte uns, wüssten wir auch nichts zu sagen gegen Quoten zugunsten von Jugendlichen, älteren ArbeitnehmerInnen, MigrantInnen, AlleinerzieherInnen, Homosexuellen, ErnährerInnen von Großfamilien, und gewiss gäbe es noch vielerlei andere Gruppen. Die Gerechtigkeit kennte kein Ende. Und wir glauben wirklich an das, woran wir glauben wollen. Und wie schön, wenn uns einfache Lösungen angeboten werden, zu denen wir nur noch nicken müssen, um teilzuhaben an einer besseren Welt.

Für tief gehende, kompliziertere Ansätze hätten wir ohnehin weder Zeit noch Kraft. Wir schaffen es ja nicht einmal mehr, längere Zeitungsartikel zu lesen. Die Schlagzeilen im Gratisblatt und im E-Paper reichen uns ohnehin schon. Aus ihnen erfahren wir kopfschüttelnd, dass unsere Pisa- getesteten Kinder nicht Sinn erfassend lesen können.

Bücher? Sicher! Wir scannen E-Books auf die spannenden Stellen. Praktisch, dass uns der Algorithmus des Online-Händlers nur noch Titel vorschlägt, die unserem Geschmack entsprechen und unsere Meinungen untermauern. Und ja, wieso denn nicht: Auch abseits davon empfinden wir es als angenehm, wenn uns Lästiges abgenommen wird, von Apps etwa, die unsere Vorlieben antizipieren und für uns Wege, Einkäufe und andere Tagesaktivitäten selektieren. Orientierungssinn? Wozu? Wir haben Navis für jede Lebenslange. Weniger frei oder selbstbestimmt sind wir deshalb nicht, wir haben doch mehr, viel mehr Möglichkeiten, als es Menschen vor uns je hatten.

Unsere Realität, sagen die Weisen aller großen Religionen, ist ein Spiegelbild unseres Bewusstseins. Evolution wiederum passiert deutlich rascher als bisher angenommen, fanden Wissenschafter jüngst heraus. Schon von einer Generation zur nächsten verändern sich Erbgut und Verhaltensmuster. Unsere Kinder haben also gute Chancen, nicht mehr das Gefühl zu verspüren, dass da etwas schiefläuft mit uns. Alles ganz normal. (Thomas Sautner, Album, DER STANDARD, 28.12.2013)