Anfänglich wurden nur Briefe gestempelt und kuvertiert, inzwischen fertigen die Suchtkranken auch Schmuck.

Foto: Standard/Florian Lechner

Innsbruck - Es sind seine Augen, die etwas feuchter glänzen als bei anderen Menschen. Vielleicht hält sein Blick auch manchmal um eine Bruchsekunde zu lange inne. Ansonsten würde man Peter* seine Geschichte nicht anmerken. Und sowieso nicht, dass er heute bereits 800 Milligramm Morphinsulfat-Pentahydrat geschluckt hat, ein Opiat, das ähnlich wie Heroin wirkt und unter dem Namen Substitol als Ersatzdroge verschrieben wird. Er macht das jeden Tag seit sehr vielen Jahren. Inzwischen wisse er gar nicht mehr, wie das war, "nüchtern zu sein", er stockt und überlegt kurz: Nein, er könne sich einfach wirklich nicht mehr daran erinnern.

"Dem Leben Sinn geben"

Peter sitzt an einem langen Tisch mit zwanzig anderen Menschen unterschiedlichsten Alters. Was sie verbindet, ist ihre Drogenabhängigkeit und der Wille, "dem Leben dennoch einen Sinn zu geben", wie es einige formulieren. Nicht alle sind bereits auf Ersatzdrogen umgestiegen, die meisten konsumieren intravenös. Im Innsbrucker Abrakadabra, einer Einrichtung der Caritas, treffen sie einander in unregelmäßigen Abständen, je nach Verfassung und Interesse, und können dort tageweise für 4,5 Euro die Stunde arbeiten.

Die ursprüngliche Idee war ein Versandservice: Briefe falten, kuvertieren, bündeln, stempeln. Seit der Eröffnung 1998 hat sich das Abrakadabra jedoch weit darüber hinaus entwickelt. Zuerst kam der "Outdoor-Bereich" dazu, also Hilfe beim Forsten und Heuen, inzwischen ist die Einrichtung aber auch zur Designwerkstatt geworden. Aus Müll und Recyclingmaterial fertigen die Suchtkranken Möbel, Armbänder, Ketten oder Schlüsselanhänger.

Beratung und Entzug auf Eigeninitiative

"Die Caritas arbeitet für und mit Junkies. Die Menschen kommen in den seltensten Fällen aus der Partyszene, sie sind oft in Fremdfamilien aufgewachsen, wurden Opfer von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung", sagt Wolfgang Gratzl, der in der Caritas Tirol die Drogenarbeit leitet. Neben dem Abrakadabra bietet die Hilfsorganisation ein Beratungszentrum und eine Notschlafstelle für Süchtige. Das österreichweit Einzigartige an den Einrichtungen in Innsbruck: Die Menschen werden dort "in ihrer Sucht abgeholt", wie Gratzl sagt. Er meint damit: Die Drogenabhängigen dürfen im Schlafhaus auch konsumieren - Beratung und Entzug erfolgen nur auf Eigeninitiative.

Sarah* arbeitet seit drei Monaten immer wieder mal im Abrakadabra. Ihren ersten Joint hat die heute 21-Jährige mit 13 geraucht. Kurz nach ihrem 15. Geburtstag hat sie sich ihre erste Spritze gesetzt. Während sie erzählt, schiebt sie immer wieder ihre Oberlippe über die braunen Vorderzähne. Wenn Menschen von ihrer Abhängigkeit wüssten, würden sie sich oft verhalten, als wäre sie ansteckend, erzählt sie. Vor allem die "älteren Generationen" hätten dann ein Problem mit ihr.

Legale Research Chemicals

Nie ausprobiert hat Sarah, was Gratzl das "größte Drogenproblem unserer Zeit" nennt: sogenannte Research Chemicals, die in Labors in Osteuropa oder China produziert und extrem günstig verkauft werden, sie stehen kurzfristig nicht am Index, sind also legal erhältlich, und "kein Mensch kennt ihre Auswirkungen". Während der Heroin-Schwarzmarkt "quasi tot" sei, würden diese Substanzen in Massen auf den heimischen Markt strömen. "Wir erleben Menschen, die davon völlig durchknallen, die Droge verändert ihre Psyche. Heroinabhängige sind dagegen 'easy going'."

Peter fädelt währenddessen Perlen auf eine Lederschnur, ganz behutsam. Er sei eine Ausnahme, weil der heute 50-Jährige erst mit 30 Jahren das erste Mal an Drogen geriet. Seine Mutter hatte ihn verstoßen, weil er schwul ist. Irgendwann sah er keinen anderen Ausweg, wollte sein Leben vergessen. "Zwei Monate nach meiner ersten Spritze habe ich einen Brief bekommen. Meine Mutter wollte die Aussprache. Wäre diese Nachricht etwas früher gekommen, hätte ich mir vielleicht alles erspart." (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 28./29.12.2013)

*Der Name wurde geändert.