Hinter diesen Schuhsohlen verbergen sich Einlagen, die Schlaganfallpatienten beim Bewegungstraining helfen sollen: Bis zu einer Million Euro, drei Dissertationen und zwölf Master- und Bachelorarbeiten, dazu die Arbeit von zehn Forschern, die bei insgesamt vier Institutionen beschäftigt sind, flossen in ihre Entwicklung.

Foto: Heribert Corn

Auf den ersten Blick sehen sie völlig unspektakulär aus. Wenn Martin Reichel sie aber in seine Schuhe steckt und anfängt, durch den Raum zu marschieren, dann erscheinen bunte Linien in einem Diagramm auf seinem Computer, sie gehen hinauf und hinunter wie bei einem EKG. Wer die Einlage selbst in die Hand nimmt, der entdeckt Wölbungen an der Unterseite, wo die vier Drucksensoren sich leicht aus dem Material beulen, den Steckanschluss, wo das Ladekabel angeschlossen werden kann, oder das kleine Lämpchen, das grell leuchtend anzeigt, dass die Technik einsatzbereit ist. Und wenn die wie erhofft funktioniert, dann könnte die Schuheinlage vielen Menschen helfen - und bald weltweit vermarktet werden.

Mistraal steht, etwas umständlich, für Mobile Instrumented Stroke Rehabilitation in Ambient Assisted Living. Auf Deutsch: Die Einlage soll Schlaganfallpatienten helfen, zu Hause zu trainieren, um wieder beweglicher zu werden - und gleichzeitig dem Arzt ermöglichen, die Fortschritte zu überwachen. Reichel, Leiter des Instituts für Biomedizinische Technik an der FH Technikum Wien, leitet das Projekt an der Fachhochschule und koordiniert die Forschung. Ceit Raltec, ein medizinisches Forschungsinstitut in Schwechat, hat die Einlage entwickelt und ist gemeinsam mit der Firma Bständig für den Bau der Prototypen zuständig.

Trainingsdisziplin gefragt

Bewegungsstörungen gehören zu den häufigsten Folgen eines Schlaganfalls. Solange die Patienten im Spital sind, werden sie von Pflegern und Physiotherapeuten unterstützt, bestimmte Übungen zu machen, um sich wieder normal bewegen zu können. Sobald die Betroffenen aber wieder zu Hause sind, überwacht keiner mehr die Trainingsdisziplin - mit dem Ergebnis, dass die Besserung auf sich warten lässt. "Es gibt keine Daten dazu, wie viele Patienten ihr Training zu Hause weiterführen oder abbrechen", sagt Reichel. "Die Ärzte können das ja auch unmöglich überprüfen." Die langfristig oft dürftigen Rehab-Erfolge weisen aber darauf hin, dass es nach der Entlassung oft vorbei sein dürfte mit dem gezielten Fuß-Kreisen, Knie-Beugen oder Auf-der-Linie-Bancieren.

Zudem ist es bisher sehr aufwändig, den Therapiefortschritt oder auch nur die Probleme des Patienten wissenschaftlich exakt zu bestimmen. Betroffene müssen dafür in ein eigenes Labor, wo sie an verschiedene Körperstellen - etwa ans Knie oder an die Hüften - eine Art Reflektor geklebt bekommen und anschließend mit mindestens sechs speziellen Infrarotkameras gefilmt werden. Das kostet Zeit und Geld. Die Einlage soll es deutlich einfacher und billiger machen, Parameter wie Schrittlänge und Symmetrie im Gang zu bestimmen.

Therapiefortschritte sehen

"Im Grunde ist die Einlage nichts anderes als ein Wii-Controller", sagt Reichel, "allerdings einer mit ziemlich guter Technik." Die Drucksensoren messen, wie Patienten beim Gehen auftreten und wie sie abrollen, ein Accelerometer die Geschwindigkeit, ein Magnetsensor bestimmt die Lage im Raum, per Bluetooth werden die Daten an einen Rechner übertragen, per Internet können sie auch an einen zentralen Server übermittelt werden. Der Arzt kann dann von seinem Computer aus den Therapiefortschritt beobachten, die gesamten Daten können für weitere Studien zu besseren Behandlungen ausgewertet werden. Die Einlage lässt sich zudem mit einem Fernseher oder einem Bildschirm koppeln. Wie beim Controller einer Spielkonsole kann der Patient mit der Einlage einen Cursor steuern: Wer mit seinen Zehen nach links oder rechts drückt, bewegt den Pfeil auf dem Bildschirm dementsprechend, wer sich auf die Ferse stellt oder den Fuß hebt, kann hinauf oder hinunterfahren. Das ermöglicht es, nicht nur langweilige Übungen nachzumachen, sondern beim Trainieren Spiele zu spielen - etwa Bälle zu treffen oder einem Pfad zu folgen. Der Spaß dabei soll die Motivation und Trainingsdauer erhöhen.

Dass die Technik gerade bei älteren Patienten auf Unverständnis stößt oder dass diese mit Computer-Spielen nichts anfangen können, glaubt Reichel nicht: "Wir entwickeln hier Therapielösungen für die Zukunft, für Schlaganfallspatienten unserer Generation", sagt er.

Die ersten Prototypen sind bereits fertig, die Akkus halten drei Stunden, und in Tests haben sich die Einlagen als belastbar genug erwiesen. Nun sollen fünf technikaffine Patienten sie erstmals zu Hause ausprobieren, daneben sollen Tests gemeinsam mit dem Neurologischen Rehabilitationszentrum am Wiener Rosenhügel durchgeführt werden. Wenn alles gutgeht, sollen die Einlagen gerade einmal 200 Euro pro Paar kosten.

Gleichgewicht trainieren

Etwa 24.000 Menschen erleiden in Österreich jährlich einen Schlaganfall. Zwar sind die Probleme danach sehr unterschiedlich, sodass die Einlagen nicht für alle passen - Schlaganfallspatienten sind aber nicht die einzigen potenziellen Nutznießer der Entwicklung. "Theoretisch sind auch viele andere Einsatzmöglichkeiten denkbar", sagt Reichel. So könnten Menschen im fortgeschrittenen Alter generell ihren Gleichgewichtssinn trainieren: Je älter Menschen werden, desto schwerer fällt es ihnen, auf einem Bein zu stehen. "Je früher man beginnt, dass zu üben, desto besser - und desto weniger stürzt man im Alter", sagt Reichel. Allein: "Derzeit wird in Österreich nicht viel Geld in Prävention gesteckt. Aber es gibt schon ein leichtes Um- denken."

Wesentlich für den Erfolg wäre, dass die Krankenkassen bereit wären, die Kosten zu übernehmen. "Gesamtgesellschaftlich macht das durchaus Sinn, die Leute sind schneller wieder fit und können schneller wieder arbeiten. Das Gesundheitssystem denkt aber oft nicht so. Die sehen nur, was es sie unmittelbar kostet." (Tobias Müller, DER STANDARD, 24.12.2013)