Seit dem jähen Sturz und der sofortigen Hinrichtung des Onkels des 30-jährigen Diktators Kim Jong-un als "menschlicher Abschaum", als "Verräter" und "minderwertiger als ein Hund" laufen die Spekulationen über die Folgen des blutigen Familiendramas in Nordkorea auf Hochtouren. Vor dem völligen Mangel an überprüfbaren Informationen sind selbst die traditionell am besten vernetzten Beobachter in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und in Peking auf widersprüchliche Vermutungen über die Fakten hinter den bizarren und absurden Verschwörungsszenarien angewiesen.

In der kommunistischen Welt gab es kein vergleichbares Beispiel für ein fast allmächtiges Herrschaftsmodell eines Familienclans. Der in der Sowjetunion ausgebildete Kim Il-sung (1912-1994) war bereits vor dem Koreakrieg (1950- 1953) der starke Mann des kommunistischen Nordkorea. Er vertrat eine marxistisch-leninistisch verbrämte nationalistische Ideologie und baute in der Folge die erste kommunistische Dynastie der Welt auf. Sein Personenkult prägt auch nach seinem Tod den Alltag der 25 Millionen Nordkoreaner in dem isolierten und wegen der massiven Aufrüstung ins wirtschaftliche Elend gestürzten Land. Dem "großen Führer" folgte sein Sohn Kim Jong-il (1941- 2011), der "geliebte Führer" . Mit der Machtübernahme durch dessen Sohn Kim Jong-un (geboren 1984) herrscht also die Kim-Dynastie bereits in der dritten Generation.

Obwohl schon früher Familienmitglieder abgesetzt wurden, handelt es sich diesmal um die erste öffentlich bekanntgegebene Hinrichtung eines ranghohen Mitglieds des herrschenden Familienclans. Jang Song-thaek war die Nummer zwei in der Hierarchie, verheiratet mit der Tochter des "großen Führers" und Schwester des "geliebten Führers". Beide waren Politbüromitglieder und Armeegeneräle. Der gesäuberte Jang Song-thaek, 67, soll überdies die Weichen dafür gestellt haben, dass Kim Jong-un und nicht seine beiden älteren Brüder die Nachfolge des "geliebten Führers" antreten konnte.

Jang hat über vier Jahrzehnte Spitzenpositionen bekleidet. Warum wurde er vor laufenden Kameras von einer erweiterten Sitzung des Politbüros abgeführt und als ein Verbrecher hingerichtet?

Die lange Liste der bizarren Anklagepunkte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er selbst ein Bestandteil der durch und durch korrupten, grausamen und despotischen Elite gewesen ist. Wollte er, wie manche vermuten, eine Öffnung nach chinesischem Muster, also eine Reformpolitik? War er zu mächtig für Fraktionen der Militärbürokratie? Zu pragmatisch für den säbelrasselnden und zu internationalen Provokationen neigenden, mit Atombomben und Raketen mit einer Reichweite von 10.000 Kilometern drohenden jungen Diktator?

Winston Churchill warnte vor fast 75 Jahren, Russland sei ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium. Die Machtkämpfe im Kreml verglich er später mit zwei Bulldoggen unter einem Teppich. Die Außenstehenden hören nur das Knurren. Wenn die Knochen herausfliegen, ist klar, wer gewonnen hat. Die abscheuliche und unberechenbare Schreckensherrschaft in einem mehr denn je isolierten Land, mit einem waghalsigen Nuklearprogramm, bedroht den Frieden nicht nur auf der koreanischen Halbinsel. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 24.12.2013)