Im Kinderheim Axams sind manche bereits Bewohner in zweiter Generation: die Kinder von ehemaligen Heimkindern.

Foto: Florian Lechner

Axams - Die meisten Menschen verbinden das Haus, in dem sie aufgewachsen sind, mit einem ganz bestimmten Geruch, der einem eigentlich erst auffällt, wenn man nicht mehr dort lebt und längst zum Besucher wurde. Durch die verschiedenen Stationen des Kinderheims in Axams zieht sich nicht nur ein jeweils ganz eigener Duft, die Abschnitte des Erwachsenwerdens haben dort unterschiedliche Temperaturen - je älter die Kinder, desto kühler die Räume.

Dieses letzte "Kinderheim" des Landes Tirol gliedert sich in Wohngemeinschaften nach Altersstufen und lebt damit unter altem Namen das heute gängige Modell der Jugendwohlfahrt: kleine Gruppen, individuelle Betreuer. Nach den vielen Skandalen um Missbrauch und Kinderarbeit in österreichischen Heimen kam vom Land die Aufforderung, die Bezeichnung zu ändern, etwas unbelastet Spritziges, vielleicht irgendetwas auf Englisch. Doch das wollte man nicht, Axams sei einfach mehr "Heim" als "Center".

Bis die Eltern "stabil" sind

Vor der wohlig warmen Dachgeschoßwohnung steht in bunten Lettern "KWG" an der Wand. Das ist die Abkürzung für Kinderwohngruppe. Sieben Neun- bis 14-Jährige leben dort, die meisten vermutlich auf absehbare Zeit, also bis sich die Lebenssituation der Eltern "stabilisiert" hat - was im Einzelfall alles heißen kann, vom erfolgreichen Entzug bis zur späten Erkenntnis elterlicher Liebe. Bei zweien steht schon jetzt fest, dass sie wohl bis zur Volljährigkeit Heimkinder bleiben. Erst auf den zweiten Blick und ganz beiläufig wird deutlich, was das eigentlich bedeutet.

Beim Herumblödeln mit mehreren Kindern sagt Paul* etwa, dass er sehr gerne hier lebt. Was ihm daran denn bitte gefalle, will Rosi wissen, die erst vor kurzem im Heim untergebracht wurde und ein skeptisches Mädchen ist. "Sonst hätt ich gesehn, wie meine Mama sich umbringen will, das wär nicht so gut", erklärt er nüchtern, schluckt kurz und kitzelt Rosi - fast als hätte er selbst nicht verstanden, was er da gerade gesagt hat. Seine Mutter war auch schon ein Heimkind.

Paul und Rosi gehen wie alle Kinder der Gruppe in die Neue Mittelschule in Axams. Sie kommen mittags nach Hause, reißen sich erleichtert die Mützen vom Kopf, beschweren sich über schwere Tests und andere Schüler - wie in jeder Familie eben.

"Wenig Ausreißer nach oben"

Dennoch ist ihre Laufbahn schon jetzt in gewisser Weise vorgezeichnet. "Der klassische Weg ist der Abschluss der Pflichtschule, die meisten schaffen eine Lehre, es gibt wenige Ausreißer nach oben und noch weniger nach unten", sagt Dietmar Mutschlechner, der Heimdirektor. "Unsere Kinder kommen aus bildungsfernen sozialen Randschichten. Es ist illusorisch zu glauben, dass wir hier eine Auswahl an Begabten wie über einen gesellschaftlichen Zufallsgenerator bekommen."

Ein Haus weiter hat er im April ein neues Projekt gestartet. "Mama Mia" heißt die Gruppe, die immer vier Mütter mit Kind für einen Zeitraum von sechs Monaten aufnimmt. Die Idee: Frauen, deren "Erziehungsfähigkeit infrage gestellt wird", aber bei denen "begründete Hoffnung" besteht, erlernen das Rüstzeug der Elternschaft. Wer dort reinkommt, fühlt sich wie in einer Blase. Die Zimmer sind so hochgeheizt, dass Säuglinge in leichten Stramplern nicht frieren, der Duft von warmem Schokoladekuchen legt sich über diesen ganz eigenen Geruch, den nur Babys haben.

"Bevor wir den Müttern lehren, wie man ein Kind erzieht, müssen wir oft erst die Mütter erziehen", sagt Nadja, eine Betreuerin. Sie erkläre dann, dass man sich regelmäßig wäscht, die Zähne putzt und man "Hallo" sagt zur Begrüßung. Die Erfahrungswerte aus der Gruppe sind natürlich noch gering. Bisher hatte man Mütter, die nach sechs Monaten glücklich mit Kind entlassen wurden, genauso wie andere, die erkennen mussten, dass sie noch nicht bereit sind für diese Verantwortung.

Im Büro von Direktor Mutschlechner steht Im Namen der Ordnung von Horst Schreiber im Regal. Der Historiker erzählt darin die Leidensgeschichten von Tiroler Heimkindern und von deren unerbittlich harter Erziehung. Das Landeskinderheim in Axams wurde im Jahr 1927 gegründet und war bis in die 80er-Jahre ein reines Säuglingsheim - Vorwürfe wurden hier deshalb nur vereinzelt laut. Von 1970 bis 1988 waren zu einem großen Teil Gastarbeiterkinder untergebracht. "Hätten wir damals schon Jugendliche aufgenommen, wäre es bei uns vermutlich aber das Gleiche gewesen wie überall", sagt Mutschlechner.

Heute, glaubt er, werde das gegenteilige Problem ignoriert: Gewalt von Jugendlichen gegenüber Lehrern und Betreuern. "Gesellschaftlich schieben wir das Problem auf vermeintlich unfähige Pädagogen ab, aber da werden wir dann in 50 Jahren sagen, dass damals weggeschaut wurde."

In der Jugend-WG im Erdgeschoß ist es kühl. Eine Gruppe liegt auf der roten Couchlandschaft und starrt in ein Smartphone, die anderen sind noch in der Arbeit, also bei ihrer Lehrstelle. Jeder hat sein eigenes Zimmer, in den nächsten Tagen werden es aber fast alle acht Jugendlichen verlassen. Weihnachten. Das bedeutet für viele hier nach langer Zeit wieder eine Nacht bei den Eltern. Die Pubertierenden geben sich eher gefühlskalt: Ferien seien immer gut, mehr nicht. Die elfjährige Rosi aus der Kindergruppe hatte das noch anders formuliert: "Der Philipp bekommt vielleicht eine Kamera, aber mir bringt das Christkind Mama und Papa." (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 23.12.2013)