Ludwig "Luki" Wittgenstein um 1895 auf der Hochreith, dem Landsitz der Familie Wittgenstein im südlichen Niederösterreich.

Foto: ÖNB

Österreichs wichtigster Preis für Wissenschafter ist ebenso nach ihm benannt wie ein internationales Philosophie-Symposion oder ein Haus, das er für seine Schwester plante. Die Rede ist von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951), der nach den Wünschen von Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auch noch Namensgeber des heutigen IST Austria in Klosterneuburg geworden wäre - was von Wittgensteins Nachfahren aber rechtzeitig verhindert wurde.

Den Namen Wittgenstein für österreichische Forschungseinrichtungen zu reklamieren ist auch deshalb etwas problematisch, weil der Philosoph die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens nicht in seinem Heimatland verbrachte. Er ging zwar in Linz zur Schule (in die gleiche wie Adolf Hitler, aber in eine andere Klasse), doch schon zum Studium verließ er Wien. Promoviert hat er dann - nach einer Karriere als Volksschullehrer in der niederösterreichischen Provinz - 1929 in Cambridge.

Umfangreiche Sammlung

In der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) gibt es seit kurzem einen Ludwig-Wittgenstein-Forschungslesesaal. Und in dem Fall ist die Bezeichnung jedenfalls legitim: Die ÖNB verfügt nämlich nach dem Trinity College in Cambridge über die umfangreichste Sammlung an Manuskripten von und Dokumenten zu Ludwig Wittgenstein, wie Andreas Fingernagel, Direktor der Sammlung von Handschriften und alten Drucken an der ÖNB, erklärt.

Unter den umfangreichen Beständen befinden sich zwei Typoskripte des berühmten Tractatus logico-philosophicus, über den Wittgenstein in Cambridge dissertierte. ("Don't worry, I know you'll never understand it", soll er damals seinen Prüfern Bertrand Russell und George Edward Moore aufmunternd gesagt haben.) Neben Manuskripten vor allem aus der mittleren Periode seines Werkes gibt es zahlreiche Briefe sowie drei Fotoalben der Familie Wittgenstein. Dazu existieren 200 Einzelfotografien, die bis ins Jahr 1850 zurückreichen und das frühe Interesse der kunstsinnigen Familie an der Fotografie dokumentieren.

Diese insgesamt rund 600 zum Teil noch unpublizierten Fotos - "Schnappschüsse", aber auch aufwändige Studioporträts aus den Jahren zwischen 1850 und 1910 - seien "aus mehreren Gründen faszinierend", sagt Elisabeth Edith Kamenicek, die sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem außergewöhnlichen Bilderschatz beschäftigt. "Die Fotos geben nicht zuletzt interessante Aufschlüsse über kultur- und sozialhistorische Zusammenhänge", sagt die Wittgenstein-Expertin, die sich bereits in Cambridge mehrere Jahre lang mit dem Nachlass des Philosophen beschäftigt hat.

Etliche der Fotos in den Alben zeigen Karl Wittgenstein, den autoritären Paterfamilias, der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte. Der Eisen- und Stahlindustrielle häufte ein riesiges Vermögen an und hinterließ bei seinem Tod 1913 den sechs damals noch lebenden Kindern ein - nach heutiger Umrechnung - Euro-Milliardenvermögen. Sein jüngster Sohn Ludwig hat seinen Anteil bereits während des Ersten Weltkriegs vor allem an seine Geschwister verschenkt, aber auch an Künstler wie Georg Trakl.

Auf etlichen der erstaunlich gut erhaltenen Fotos sieht man Karl Wittgenstein auf dem Landsitz der Familie, der Hochreith im südlichen Niederösterreich, nicht nur im Kreise der Großfamilie, sondern auch beim "Netzwerken". Dort traf er sich mit seinen Geschäftspartnern, mit denen er kartellartige Absprachen traf. Karl Wittgenstein habe, so heißt es in einer Biografie, seine Freunde zu reichen Männern gemacht, ohne dass sie sich selbst zu bemühen brauchten.

Schwierige Spurensuche

Doch wer sind diese Männer auf den Fotos? Eine von Elisabeth Kameniceks Herausforderungen besteht darin, diese Geschäftspartner auf den Fotos zu identifizieren. Einige Rätsel geben aber auch die Orte auf, die auf den Fotos abgebildet sind. Die Mitglieder der großen Familie waren viel auf Reisen; die einzigen "Metadaten" zu den oft stark beschnittenen und sorgsam arrangierten Fotografien sind Nummern, Angaben zum Ort oder Zeitpunkt der Aufnahmen fehlen.

Auf zahlreichen Fotos findet sich auch Ludwig Wittgenstein in Kindertagen, meist im Kreise seiner zahlreichen Geschwister, von denen er "Luki" genannt wurde. Eines der Kinderfotos - und eines der Wittgenstein-Fotoalben - ist im Moment übrigens auch öffentlich ausgestellt, nämlich in der Schau Kinder, wie die Zeit vergeht!, die Kinderfotos von mehr oder weniger bekannten Österreichern von 1870 bis 1970 zeigt.

Für Kameniceks ungewöhnliches Forschungsprojekt, das von einem privaten Mäzen finanziert wird, sind die Fotos von "Luki" aber nicht nur aus biografischer Sicht von Interesse. Der Philosoph besaß später selbst auch ein sorgsam gehütetes Fotoalbum mit ähnlich arrangierten Abbildungen, das den Arrangements der Familienalben gleich. Und womöglich darf sogar darüber spekuliert werden, ob Wittgensteins philosophisches Interesse etwa am Problem der Familienähnlichkeit ein fernes Echo dieser drei Fotoalben sein könnte. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 18.12.2013)