Laszives Völlern im Gemüsebeet: "Deep Dish" von Chris Haring erzählt von der Dekadenz der Gegenwart.

Foto: Haring

Wien - Dieses Abendmahl könnte ein letztes sein. Und die vier Tänzer, die ihm frönen, erscheinen wie morbide Demiurgen, wie ein Quartett aus entgleisten Schöpfergöttern, die ihr Erschaffenes einer Apokalypse zuführen. Das sind die Protagonisten in Deep Dish, dem neuen Stück des Wiener Choreografen Chris Haring, welches das dritte Kapitel seiner Perfect Garden-Serie bildet. Es ist noch bis Samstag im Tanzquartier Wien zu sehen.

Im pathetisch gesetzten Licht von vier Scheinwerfern dekorieren drei Frauen und ein Mann eine quadratische, üppig mit Früchten, Gemüse und anderem Gewächs beladene Tafel. Die leise Musik im Hintergrund könnte von den Avalon Boys sein. Von der Decke tropft Wasser in ein Glas. Der Tänzer führt eine Handkamera, deren Bilder auf eine große Hintergrundleinwand übertragen werden, an das vegetabile Arrangement heran und hinein in einen Chinakohl. An einem Fenchel vorbei zu Paprika, Wassermelone und Ananas.

Das ist schön anzusehen, aber so in Szene gesetzt, dass dieser Vegetarierlust sofort etwas Laszives und Unheimliches anhaftet. Die vier Figuren setzen sich an den Tisch und beginnen zu völlern. Was sie schnell aus der Fassung bringt. Sie geraten ins Plappern, ins Kichern und Tanzen. "Die Österreicher", flötet eine der Frauen, "sind sehr streng mit der Lebensmittelkontrolle. Die Gurke muss genau 23 Zentimeter lang sein." Und alles, was den Normen nicht entspreche, müsse draußen bleiben und verderbe an der Grenze. Aber: "Kleinere Gurken kann man schwarz kaufen."

Die Atmosphäre erinnert ein wenig an eine diskrete Bourgeoisie à la Luis Buñuel und indirekt an Das große Fressen von Marco Ferreri und Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber. Diese Assoziation ist nicht weit hergeholt: Denn Chris Haring führt - im bewährten Gespann mit Regisseur Thomas Jelinek und Musiker Andreas Berger - seine Tänzer Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves und Anna Nowak leicht und süffisant in die Dekadenz der Gegenwart. Der Tisch steht als Metapher für die von einer außer Rand und Band geratenen Elite zunehmend verwüstete Welt.

Zerschnitten und zermatscht werden die Tomaten, geisterhaft grün leuchten von einer Nachtsichtkamera gefilmte Gesichter, die unter dem Tisch wie Ratten aus einem Horrorfilm an organischem Material naschen. Und Vogelgezwitscher mischt sich mit dem Summen eines Fliegenschwarms.

Die Tänzer wälzen sich auf dem Tisch, und von etwas Unaussprechlichem ist die Rede. Von etwas, das uns den Verstand rauben würde. Eine der Frauen redet von einer Pflanzensamenbank, die im Fall eines globalen Desasters unsere Rettung sein könnte. Die Bilder beginnen sich zu teilen und mutieren für Momente zu "Mikroben", die fraktale Spiralen bilden. Und in eleganten Weingläsern auf dem Tisch tummelt sich allerlei Kleinstgetier.

Deep Dish präsentiert sich als bis ins Detail perfekt umgesetzte Mischung aus Tanz und Live-Film, in dem auch Lars von Trier als Referenz auftaucht (für diesen Hinweis sei einer Tänzerin aus dem Publikum gedankt): mit Georg Friedrich Händels berühmter Arie Lascia ch'io pianga, die der dänische Regisseur unter den Prolog seines Films Antichrist legte. Bei Haring tanzen dazu - das ist einer der vielen bestechenden Momente im Stück - Fadenwürmer im Wasser. Insgesamt gehört Deep Dish wohl zu den besten Tanzstücken, die dieses Jahr in Österreich zu sehen waren. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 14.12.2013)