Wien – Dass Russland so reformresistent ist, liegt nicht nur am Kurs seines gegenwärtigen Präsidenten. Für den Moskauer Soziologen Simon Kordonsky, der für Wladimir Putin in dessen erster Amtszeit Reden geschrieben und die Regierung beraten hat, liegen die tieferen Ursachen in einer Verwaltungsstruktur, die Jahrhunderte zurückreicht. Sie wurde von den Kommunisten perfektioniert und lebt in der Russischen Föderation weiter. Es sind einander teils überlagernde und miteinander konkurrierende Organe auf allen Ebenen, die um Ressourcenzuteilung durch die Zentrale kämpfen und via Verteilung Macht ausüben.

In einer einzigen Stadtgemeinde könne es bis zu 40 Vertreter regionaler und föderaler Behörden mit ihren jeweils eigenen Regeln und Hierarchien geben, erläuterte Kordonsky am Dienstag in Wien bei einer Veranstaltung des Renner-Instituts und des EU-Russland-Thinktanks Iceur. Die Folge: kein koordinierter Interessenausgleich, keine langfristige Planung. "Derzeit kann maximal für drei Monate geplant werden, dann wird das an sich für ein Jahr geplante Budget korrigiert."

Explosion heißt: Geld ist aus

Das liegt auch am Kampf um Ressourcen. Um möglichst viel davon zu erhalten, konstruiere man Bedrohungen, vor allem solche der territorialen Integrität der Föderation. Dies gelte besonders für den Fernen Osten, die west­liche Exklave Kaliningrad und den Kaukasus. Zu Letzterem beschreibt Kordonsky eine Art Standardsituation: "Sobald kein Geld mehr da ist, kommt es irgendwo zu einer Explosion. Das ist das Si­gnal: Das Geld ist aus."

Aus der strukturellen Selbst­lähmung leitet Kordonsky seine Kernanalyse der russischen Verhältnisse ab: "Unser Land hat keine Zukunft. Wir haben nur eine Gegenwart, und die besteht aus der Reproduktion einer schönen, guten Vergangenheit. Welcher, das ist nicht klar."  Logischerweise bestünden sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik Russlands "aus situativem Reagieren auf aktuelle Bedrohungen". (Josef Kirchengast /DER STANDARD, 12.12.2013)