Roland Atzmüller: "Die Krise in Europa wird jetzt mit Maßnahmen bearbeitet, die zur Krise beigetragen haben."

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"Die Finanzkrise wurde in eine Staatsschuldenkrise transformiert", sagt Roland Atzmüller, Assistenzprofessor am Institut für Soziologie der Johannes-Kepler-Universität Linz. Zur Sanierung der Budgets werde nun der Wohlfahrtsstaat rückgebaut. Sozialdemokratische Parteien hätten sich in der Vergangenheit "selbst zu Akteuren der neoliberalen Transformation gemacht". Die benachteiligten Schichten der Gesellschaft sind, so Atzmüllers Diagnose, immer schwerer zu erreichen für sozialdemokratische Parteien. Außerdem rekrutieren linke Parteien "ihre Funktionäre zunehmend aus den Bildungsschichten und damit den Mittelklassen. Das heißt, sie repräsentieren nicht alle Gesellschaftslagen. Das ergibt ein distanziertes Verhältnis zu jenen, die von Armut betroffen sind und mit prekären Lebenslagen zu kämpfen haben", sagt Atzmüller.

derStandard.at: Sie haben in einer Einladung für eine Konferenz geschrieben: "Es ist fünf vor zwölf, wenn nicht bald gehandelt wird, kann eine weiterer Zerstörung des Sozialstaates nicht mehr ausgeschlossen werden." Was veranlasst Sie zu dieser Gesellschaftsdiagnose?

Atzmüller: Seit 2008 wurde die Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise transformiert, was mit den staatlichen Stützungen des Bankensektors zusammenhängt. Die Folge war, dass neoliberale Antworten auf die Krise radikalisiert wurden, weil die Krise jetzt als Staatsversagen und nicht als ein Ergebnis unregulierter Finanzmärkte und wirtschaftlicher Ungleichgewichte in Europa gesehen wird. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte haben sich im letzten Jahrzehnt zwischen Ländern mit hohen Außenbilanzüberschüssen - den sogenannten Exportweltmeistern wie Deutschland - und solchen mit Außenhandelsbilanzdefiziten herausgebildet.

Auf die Staatsschuldenkrise antworten die Regierungen in Europa mit austeritätspolitischen Maßnahmen zur Sanierung der Budgets. Und da setzen sie vor allem im Sozialbereich an. In vielen Ländern werden Pensionen und Arbeitslosengelder und andere Bereiche des Wohlfahrtsstaates gekürzt. Außerdem werden in den Krisenländern Arbeitszeiten ausgedehnt und die Verhandlungsautonomie der Gewerkschaften eingeschränkt. Und man setzt die Privatisierungen staatlichen Eigentums fort. Das bedeutet, die Krise in Europa wird jetzt mit Maßnahmen bearbeitet, die zur Krise beigetragen haben.

derStandard.at: Einschnitte ins Sozialsystem wurden bereits vor der Krise vorgenommen.

Atzmüller: Die Einschnitte in die Sozialsysteme haben nicht erst jetzt begonnen, sondern bestimmten in vielen Ländern die Politik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Dadurch hat die soziale Ungleichheit massiv zugenommen. Dies hat zusammen mit der Ausdehnung von Niedriglohnsektoren und der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften etwa in Deutschland und Österreich zu Nachfrageproblemen geführt, während gleichzeitig der Exportboom, der in den Defizitländern über Kredite finanziert wurde, vorangetrieben wurde.

derStandard.at: Wie und wem konnte es gelingen, dass die Finanzkrise in eine Staatskrise umgedeutet wurde?

Atzmüller: Die Staaten haben darauf gesetzt, die Kosten der Krise zu vergesellschaften. Die Gesellschaft hat die Kosten für die Finanzinstitutionen übernommen, die als "too big to fail" galten. Angesichts der Krisen in Südeuropa konnte die Diskussion verschoben werden auf den Staatshaushalt, insbesondere auf die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates. Die Ausgaben für die soziale Sicherheit werden nun wieder als Hindernis für die Sanierung der Wettbewerbsfähigkeit präsentiert. Daher setzt die Diskussion ein, wie man das Problem der wachsenden Staatsverschuldung in den Griff kommen kann.

derStandard.at: Jetzt ist die Rede vom Budgetloch und davon, dass wir sparen müssen. Müssen wir?

Atzmüller: Ich denke, diese Frage ist falsch gestellt. In den letzten Jahren sind die Vermögen in Europa massiv gestiegen, gleichzeitig ist der Anteil der unselbstständigen Einkommen am BIP gesunken, weil die Lohnentwicklung zurückblieb. Das bringt natürlich Finanzierungsprobleme in den Sozialversicherungen, die aus Lohnabgaben finanziert werden. Zugleich wurde der steuerliche Zugriff auf diese Vermögen in vielen Ländern, in Österreich besonders, reduziert: Es gibt keine Besteuerung der Finanztransaktionen, niedrige Vermögenssteuern et cetera. Dann wird der Taschenrechner herausgeholt und geschaut, wo man sonst sparen könnte.

derStandard.at: Sollte die Sozialdemokratie in Österreich und in Europa dem Abbau des Sozialstaates nicht entgegensteuern? Warum gelingt das nicht?

Atzmüller: Die Sozialdemokratie hatte in Europa nach 20 Jahren der Niederlage gegen die Konservativen auf neue Strategien gesetzt. New Labour in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland waren in den 1990er- und frühen Nullerjahren Beispiele dafür. Sie haben sich selbst zu Akteuren der neoliberalen Transformation gemacht. Damit kamen sie zwar wieder an die Regierung, konnten aber der sich abzeichnenden krisenhaften Entwicklung keine Alternative entgegensetzen. Ja, es wurde etwa durch die Politik der Schröder-Regierung die Entwicklung der Ungleichgewichte in Europa noch forciert.

derStandard.at: Was müssen sozialdemokratische Parteien anders machen?

Atzmüller: Eine Strategieänderung sozialdemokratischer Parteien würde erfordern, dass diese sich wieder stärker den Impulsen sozialer Bewegungen öffnen, auch wenn dies Konflikte bedeutet. Parteien, die auf eine sozialökologische, gesellschaftliche Transformation setzen, müssen aber Konflikte und Spannungen in Kauf nehmen. In Europa gibt es jenseits von kleinen Gruppen und Bewegungen wenig transnationale Solidarität, etwa mit den südlichen Ländern. Die sozialdemokratischen Parteien und großen Gewerkschaftsverbände trauen sich nicht - oder wollen nicht, weil ihnen dann das vereinigte Kommentariat in den Medien bescheinigt, nicht regierungsfähig zu sein -, offen gegen die Austeritätspolitik aufzutreten. Es ist, als ob die reicheren Länder Europas hoffen, dass die Krise sie selbst nicht oder nicht so schlimm treffen wird.

derStandard.at: Eine falsche politische Strategie der Linken?

Atzmüller: Das Problem liegt tiefer. Es stellt sich immer noch die Frage, ob linke, progressive Parteien adäquat auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Sind sie fähig, auf die Herausbildung multiethnischer Gesellschaften einzugehen, ohne aus Angst vor den Rechtspopulisten zu erstarren? Sind sie bereit, diese neuen gesellschaftlichen Gruppen adäquat in politische Prozesse einzubinden und sie zu mobilisieren? Die Schwierigkeiten sozialdemokratischer Parteien haben auch mit dem gesellschaftlichen Rassismus zu tun. Auch auf Prekarisierungsprozesse und die Zunahme der atypischen Beschäftigten finden sozialdemokratische Parteien bislang nur schwer Antworten. Dies betrifft nicht nur die Frage, welche Maßnahmen notwendig sind, diese Entwicklungen einzudämmen, sondern insbesondere auch, wie diese Gruppen politisch mobilisiert werden können und wie sie ihre Interessen formulieren können.

Letztlich hat das damit zu tun, dass auch sozialdemokratische Parteien ihre Funktionäre zunehmend aus den Bildungsschichten und damit den Mittelklassen rekrutieren. Das heißt, sie repräsentieren nicht alle Gesellschaftslagen. Das ergibt ein distanziertes Verhältnis zu jenen, die von Armut betroffen sind und mit prekären Lebenslagen zu kämpfen haben.

derStandard.at: Hat sich das neoliberale Dogma schon so stark verfestigt, dass die Linken keinen Spielraum mehr haben? Sprich: Muss sich Werner Faymann auf diese Sparpläne einlassen?

Atzmüller: Es ist inadäquat, diese Debatte personalisiert zu führen. Die SPÖ ist aber in einem strategischen Dilemma. Sie schwankt da zwischen Mitmachen und Bremsen. Die Frage ist, was in einer Konstellation mit der ÖVP möglich ist, auch in Anbetracht der Alternativen, die es sonst gibt. Aber natürlich muss die Frage diskutiert werden, inwiefern sich die SPÖ an der neoliberalen Transformation beteiligt, da das scheibchenweise zur Erosion ihrer politischen und ideologischen Substanz beiträgt, wie sie sich ja auch in den sinkenden Wahlergebnissen zeigt. Bei Schröder und Tony Blair kann man klar sagen: Sie wollten die neoliberale Transformationen, auch wenn es, wie bei der SPD, zu massiven Stimmverlusten führte. Anscheinend war man der Meinung, irgendjemand muss die Drecksarbeit machen.

Bremsen allein wird aber nicht ausreichen, soll es um eine Alternative zur Austeritätspolitik gehen. Die Frage ist daher, ob die Sozialdemokratie über den Tellerrand der Wahlzyklen hinausdenken kann und sich neuen Impulsen zu öffnen bereit ist. Schaut man sich an, wie wenig Chancen kritische Stimmen innerparteilich haben, etwa auf wählbare Plätze zu kommen, kann man skeptisch sein.

derStandard.at: In die Regierung kommt, wer vom Volk gewählt wird. Welche Schlüssen ziehen Sie aus dem Wahlergebnis der letzten Nationalratswahl?

Atzmüller: Viele Personen suchen neue Zuordnungen und setzten auf neue Kräfte, wie Stronach und Neos. Aber: Diejenigen, die tatsächlich eine Verschlechterung der Position erfahren haben, wenden sich eher vom politischen Prozess ab. Sie sehen keine Möglichkeiten, sich zu engagieren und zu organisieren. Die unteren Schichten nehmen immer weniger am politischen Prozess teil. Früher war die Sozialdemokratie so organisiert, dass die Benachteiligten niederschwellig Zugang in dezentralen Organisationen, etwa in Sektionen, Zugang zur Politik hatten. Sie wurden für politische Veränderungen mobilisiert. Dieses Konzept funktioniert heute aus verschiedenen Gründen nicht mehr, Alternativen sind nicht gefunden. Hier sind auch die sozialen Bewegungen nur bedingt eine Alternative. Diese tun sich ebenfalls sehr schwer, diese Schichten zu erreichen.

derStandard.at: Bemüht sich jemand, zu unterbinden, dass sich die Benachteiligten aus dem politischen Prozess ausklinken?

Atzmüller: Im Alltagsgeschäft zum Beispiel der Gewerkschaften ist das schwierig. Sie konzentrieren sich auf die Gruppen, die für sie greifbarer sind. Etwa auf die Arbeiter und Angestellten in den großen Betrieben. Atypisch Beschäftigte sind weit schwerer zu organisieren. Es gibt diffusere Interessenlagen, die Gewerkschaft müsste sich demokratischer und basisdemokratischer organisieren und kämpferischer agieren.

derStandard.at: Ist die alte sozialdemokratische Idee von der Chancengleichheit durch Bildung aus Ihrer Sicht aufgegangen?

Atzmüller: Die soziale Mobilität hat abgenommen. Das heißt, die Chancen, durch Bildung aufzusteigen, sind geringer geworden. Die Bildung der Eltern ist ausschlaggebend für die Chancen der Kinder. Das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung scheint also nicht erfüllbar zu sein, und die Kosten für den Erwerb von Bildung steigen im wahrsten Sinn des Wortes. Sehr hohe Studiengebühren, etwa in Großbritannien, sorgen dafür, dass viel Studenten nach Studienende erst einmal mit einem hohen Schuldenberg dastehen.

derStandard.at: Und die Mittelschichten?

Atzmüller: Spannend ist, wie die Mittelschichten auf die Krise reagieren. Den Mittelschichten wird gesagt, dass die egalitären und sozialen Sicherungssysteme zu ihrem Nachteil sind, da sie die Hauptlast der Kosten tragen und für die unproduktiven Teile der Gesellschaft, die als Last dargestellt werden, aufkommen müssen. Es wird ihnen gesagt - auch von den Kommentatoren der Qualitätsmedien, in denen kritische Stimmen insgesamt immer weniger Gehör finden -, dass sie unter den Bedingungen des Wohlfahrtsstaates nicht reich werden können, weil hohe Steuern und Abgaben ihnen zu wenig Netto vom Brutto ließen.

Diese Diskurse treiben die Entsolidarisierung der Gesellschaft voran. Innerstaatlich kommt es zu einer Unterminierung des sozialen Zusammenhalts. So entsteht der Raum, in dem rechtspopulistische Vorstellungen greifen, die sich gegen die angeblich unproduktiven Teile der Gesellschaft richten.

derStandard.at: Welche Konsequenzen hat die Entsolidarisierung der Gesellschaft?

Atzmüller: Die Vorstellung, es gebe eine gemeinsame Absicherung gegenüber den Risiken des Lebens und vor allem gegenüber den Risiken des Marktes, wird aufgebrochen. Man setzt auf individuelle Selbstverantwortung und private Vorsorge. Bezieher von Transferleistungen stehen immer stärker unter Missbrauchsverdacht. Das zieht den Ausbau von Kontrollmechanismen mit sich. Seltsamerweise stellt die Bürokratisierung in diesem Bereich kein Ziel neoliberaler Kritik dar. Diese Entwicklung verbindet sich mit einer zunehmenden Verachtung und Stigmatisierung der Armutsbevölkerung. Diese bekommt stets gesagt, ihr Lebenswandel entspreche nicht. Sie seien zu faul, fernsehsüchtig, konsumgeil, bildungsfern et cetera.

Beliebt ist auch der Hinweis auf die höhere Kinderzahl in den unteren Schichten, der natürlich immer mit dem Verdacht auf Sozialbetrug verknüpft wird. Die Schlussfolgerung ist, dass sie zu einem produktiven Lebenswandel erzogen werden müssen. Auf jeden Fall wird damit ein Bild erzeugt, in dem Arme als eine Last für die Gesellschaft dargestellt werden, die letztlich zu einer Bedrohung werden. Nicht die Armut, sondern Arme werden als Gefahr für die Gesellschaft gesehen.

derStandard.at: Die "armen Länder" werden heute oft als Gefahr für das europäische Projekt angeführt.

Atzmüller: Diese Tendenzen finden wir in Europa nicht nur innerhalb vieler Staaten. Vielmehr reproduziert sich dieser Diskurs auch zwischen den Mitgliedsstaaten, etwa wenn die Ursache der Krise in der angeblichen Faulheit der Südländer verortet wird, die nun wieder den fleißigen Nordeuropäern auf der Tasche liegen.

Das blendet aber die tatsächlichen Folgen der Austeritätspolitik nicht zuletzt in Südeuropa aus. Der Lebensstandard der Bevölkerung wird gesenkt, Armut und Arbeitslosigkeit nehmen zu. Arme sind weniger gesund, sterben früher, und die Zahl der Selbstmorde steigt in den Krisenländern. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 11.12.2013)