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Melanie und Michaela wurden 2003 im Wiener AKH chirurgisch getrennt.

Foto: APA/Roland Schlager

Das Leben als siamesischer Zwilling ist anders. Von "normalen" Menschen werden sie angestarrt, von den Medien öffentlich zur Schau gestellt. Die Andersartigkeit fasziniert auch die Wissenschaft. Zwillingsforscher beschäftigen sich mit der Frage der Persönlichkeitsentwicklung, Mediziner versuchen siamesische Zwillinge frühzeitig operativ zu trennen. Die chirurgischen Eingriffe werfen immer wieder eine Reihe ethischer Fragen auf.

Benannt sind siamesische Zwillinge nach Chang und Eng Bunker, die 1811 in Siam (heutiges Thailand) zur Welt kamen. Die beiden Brüder waren zwischen Brustbein und Nabel miteinander verwachsen. Organe teilten sich die eineiigen Zwillinge nicht, jedoch waren  ihre Blutkreisläufe miteinander verbunden. In Amerika wurden die beiden als „Siamesische Zwillinge" weltberühmt. Gemeinsam mit einem Schwesternpaar zeugten sie 11 Kinder. 1874 ist Chang angeblich infolge einer Lungenentzündung gestorben. Eng folgte ihm nur wenig Stunden später. Über seine Todesursache wird bis heute gemutmaßt.

Unvollständige Spaltung oder Fusion

Die Häufigkeit mit der siamesische Zwillinge vorkommen, ist schwierig zu evaluieren. Die meisten der Doppelföten werden heute sonografisch bereits intauterin entdeckt und auf Wunsch der Eltern abgetrieben. Schätzungen zufolge ist jedoch eine von 100.000 bis 200.000 Geburten ein siamesisches Zwillingspaar. Ob diese besondere Variante eineiiger Zwillinge durch unvollständige Spaltung eines Embryos oder aber durch die Fusion zweier schon getrennter Embryos entstehen, ist bis heute nicht restlos geklärt. Fakt ist viele davon kommen bereits als Totgeburten zur Welt oder aber überleben nur die ersten Tage nach der Geburt.

Bei lebensfähigen siamesischen Zwillingen steht heute immer eine frühe chirurgische Trennung als Option im Raum. In Österreich wurden in den vergangenen 25 Jahren zweimal siamesische Zwillinge getrennt. Einer der beiden Eingriffe war erfolgreich, er wurde im Jahr 2003 am Wiener AKH vorgenommen.

Ob die operative Trennung solcher Zwillingspaare gelingt ist weitgehend davon abhängig über welche anatomischen Bereiche siamesische Kinder  miteinander verbunden sind. "Sind lebenswichtige Organe wie Herz oder Gehirn nur singulär vorhanden, dann ist maximal für einen Zwilling ein Überleben möglich", sagt Ernst Horcher, Kinderchirurg an der Universitätsklinik für Chirurgie der Medizinischen Universität in Wien. Sind Bereiche wie Wirbelsäule, Kopf oder Becken beteiligt, ist eine Trennung oft mit dem Preis schwerer Invalidität verbunden.

Elektive Eingriffe

Die beiden österreichischen Mädchen waren am Bauch miteinander verbunden. Horcher hat die Trennung mit seinem Team am zweiten Lebenstag der Kinder vorgenommen: "Wir mussten den Eingriff akut vornehmen, weil es einem der beiden Mädchen schlecht  ging". Notfalleingriffe sind verglichen mit elektiven Operationen eine große Herausforderung, da die genauen anatomischen und physiologischen Konstellationen unbekannt sind und eine exakte Vorausplanung daher nicht möglich ist.  "Wir fanden im Bauch Verhältnisse vor, die wir pränatal nicht erkennen konnten. Wir mussten unser Operationsmanagement komplett verändern", erzählt Horcher von den Schwierigkeiten, mit denen das Team zu kämpfen hatte.

Trennungen siamesischer Zwillinge sind jedoch nicht nur aus chirurgischer sondern auch aus ethischer Sicht eine Herausforderung.  "Die Entscheidung dass mit der Trennung siamesischer Zwillinge eventuell einer oder vielleicht sogar beide das Leben verlieren gehört zu den schwierigsten, da einerseits das Recht auf Leben für beide Zwillinge besteht und andererseits ein Tötungsverbot besteht", so Horcher.

Das Hinauszögern einer Trennung kann mitunter auch für beide Betroffenen tödlich enden, wodurch die Opferung eines Zwillings zugunsten des anderen unter Umständen gerechtfertigt wird, wie ein Fall in der Vergangenheit zeigt. In Großbritannien wurden im Jahr 2000 die drei Monate alten Zwillinge Jodie und Mary getrennt. Mary hatte kein eigenes Herz und keine Lunge und war um zu überleben auf ihre Schwester angewiesen. Gegen den Wunsch der Eltern entschied das oberste britische Zivilgericht, dass die Kinder getrennt werden sollten, um Jodies Leben zu retten. Mary starb noch während der Operation.

Intuitives Verstehen

Melanie und Michaela, die beiden Mädchen, die 2003 am Wiener AKH voneinander getrennt wurden, sind heute 11 Jahre alt und entwickeln sich ihrem Alter entsprechend gut. Die Wiener Psychologin Agnes Panagl begleitet die beiden Schwestern seit ihrem fünften Lebensjahr und bezeichnet die Entwicklung individueller Persönlichkeiten - wie bei anderen eineiigen Zwillingen auch – als vordergründiges Thema. "Bei siamesischen Zwillingen, auch wenn sie getrennt wurden, ist die Entwicklung der Ich-Identität noch verschärft", sagt Panagl. Sie unterstützt die Mädchen spielerisch, auch bei der Verarbeitung der zahlreichen Krankenhausaufenthalte und schmerzhaften operativen Eingriffe.

Die intensive Verbundenheit zwischen den beiden Schwestern ist trotz operativer Trennung geblieben.  "Es ist ein intuitives Verstehen zwischen beiden, ein Verstehen ohne Worte, nur durch Blicke", sagt Panagl. "Sie sind zwar körperlich getrennt, sagt Horcher, trotzdem sind sie mehr verbunden als Geschwister oder eineiige Zwillinge. In gewisser Weise sind sie unzertrennlich." (Regina Walter, derStandard.at, 11.12.2013)