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"Bianet"-Mitbegründerin Nadire Mater: Das türkische Portal wurde mit dem Press Freedom Award ausgezeichnet.

Foto: Reporter ohne Grenzen Österreich/APA/Rastegar

Wien – "Bianet" wurde mit dem Press Freedom Award ausgezeichnet, das türkische Portal bietet Journalisten eine Plattform für kritische und investigative Berichterstattung. Gründerin und Vorsitzende Nadire Mater spricht im Interview mit derStandard.at über die Auswirkungen der Gezi-Proteste, die "männliche und militaristische" Medienlandschaft in der Türkei und Solidarität unter den Journalisten. "Die gesellschaftliche Entwicklung macht mich doch hoffnungsvoll, gerade weil der Anteil der Jugend bei den Protesten so hoch gewesen ist", sagte sie Rusen Timur Aksak.

derStandard.at: Warum haben sie und ihre Kollegen Bianet gegründet?

Mater: Im Jahr 1997 haben wir uns mit dem konkreten Ziel getroffen, wie wir den Mainstream-Medien etwas entgegensetzen konnten. Zusammen mit diversen Vertretern der Zivilgesellschaft haben wir uns auf das Projekt Bianet geeinigt. Schon damals war unser Fokus unter anderem die Regionalmedien zu stärken, die zusehends unter Zentralisierungsdruck durch die großen Verlage geraten waren. Zusätzlich wollten wir eine Stelle für Rechtsbeihilfe schaffen, da es bezüglich der Meinungsfreiheit insbesondere in den kurdischen besiedelten Gebieten der Türkei tendenziell viele Anklagen gegeben hatte. Im Jahr 2000 dann konnten wir mit den Geldern aus der EU das Projekt offiziell starten.

derStandard.at: Wie sehr haben die Gezi-Proteste geholfen, die demokratiepolitischen Probleme in der Türkei aufzuzeigen?

Mater: Akteure wie Amnesty International oder etwa Reporter ohne Grenzen machten ja schon vor den "Gezi"-Protesten auf die Menschenrechtslage in der Türkei aufmerksam. Das allgemeine Interesse allerdings kam mit den Gezi-Protesten. So war ich in den ersten Tagen der Proteste in Norwegen und habe dort mitbekommen, wie stundenlang über die Situation in der Türkei berichtet wurde.

derStandard.at: Bleiben wir bei den Auswirkungen der Gezi-Proteste auf die Medien. Seit den Protesten wurden vermehrt JournalistInnen entlassen, zuletzt die bekannte "Vatan"-Kolumnistin Ruhat Mengi. Hat der Druck auf die Medien zugenommen?

Mater: Ich denke, dass der Druck auf einem hohen Niveau konstant geblieben ist. In der Tradition der "Briefings" durch die hohen Generäle in den 90er Jahren hat die AKP im Jahr 2007 begonnen, Chefredakteure und Verlagseigentümer zu "briefen", wie sie sich etwa guten Journalismus vorstelle. So empfinde ich, die Aussagen Erdogans in der Öffentlichkeit bezüglich der Medien als Anweisungen an die Zeitungsinhaber. Aktuelles Beispiel: Die AKP ist für den Friedensprozess und die Mainstream-Medien schwenken auf AKP-Linie ein. Bitte nicht falsch verstehen, ich bin für den Frieden. Aber was machen die Mainstream-Medien, wenn die AKP davon abkommen sollte? Sind sie dann plötzlich für keine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts mehr?

derStandard.at: Viele der auflagenstarken Zeitungen in der Türkei gehören Firmenholdings. Man spricht von so genanntem "Cross Ownership". Kritiker sagen, dieses System ermögliche Druck der Regierung auf Holdings, die sich etwa in der Baubranche um Regierungsaufträge bemühen.

Mater: Ich verstehe ja nicht, wieso sich Erdogan so manches Mal in Rage redet, wenn er über die Medien schimpft. Die Holdings, die Zeitungen besitzen, tendieren ohnehin stark zur Regierungslinie hin. Allerdings muss man auch sagen, das Problem mit "Cross Ownership" ist kein türkisches Phänomen, sondern auch in Ländern wie etwa Frankreich beobachtbar.

Mein Fokus ist ja, die Solidarität unter den JournalistInnen zu stärken. Auch wenn ich mittlerweile selber denke, ich hörte mich wie eine kaputte Schallplatte an; JournalistInnen müssen sich gewerkschaftlich organisieren. Das wäre zumindest mal ein Schritt in die richtige Richtung. Nehmen wir das Beispiel mit der Kollegin Mengi von vorhin: Sie ist eine kritische Journalistin, dafür ist sie bekannt und sie sagt ja selbst in der "Bianet" Meldung, sie habe gespürt, dass sie nun an der Reihe gewesen sei, entlassen zu werden. Sie war bekannt, aber eben allein. Eine starke Gewerkschaft könnte das System vor viel größere Hürden stellen.

derStandard.at: Sie haben 1999 ein Buch geschrieben, das die Erfahrungen türkischer Soldaten nach dem Einsatz gegen die PKK beschreibt. Dieses Buch wurde in letzter Konsequenz verboten. Damals gab es noch keine AKP. Hat die Türkei ein chronisches Problem mit der Meinungs- und Pressefreiheit?

Mater: Damals gab es eine Regierung unter dem Sozialdemokraten Ecevit, doch die eigentliche Initiative ging vom übermächtigen Generalstab aus. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass das Buch erschien kurz nach dem der PKK-Gründer Abdullah Öcalan inhaftiert worden war. Es gab damals eine große Unsicherheit, wie es nun mit dem Kurdenkonflikt weitergehen würde. Im Grunde war "Mehmets Buch" kein außergewöhnliches Buch, es erzählte die Geschichten ehemaliger Soldaten. Das Buch stieß auch auf reges Interesse, gerade weil es bis dato tabuisiert war über Dinge wie posttraumatische Leiden ehemaliger Soldaten zu schreiben. Das schmerzt mich an dieser Affäre auch am meisten: Die Geschichten einfacher Soldaten nicht erzählen zu dürfen, während Generäle und hohe Politiker ihre Sicht der Dinge selbstverständlich darstellen dürfen.

Es hat nicht mit der AKP angefangen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass je ein türkischer Premier so selbstverständlich öffentliche Medienschelte betrieben hat. Außerdem ist diese Konzentration von Holdings im Mediensektor eine Neuheit, die mit der AKP kam.

Meiner Ansicht nach gab es damals eine militärische Führung in der Türkei, die eigentliche Schaltzentrale war der Generalsstab. Trotz der graduellen Schwächung der türkischen Generalität wäre es aber heute immer noch wahrscheinlich, ein missliebiges Buch zu verbieten.

derStandard.at: Ihre inhaftierte Kollegin und Bianet-Mitbegründerin Füsun Erdogan wurde wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt.

Mater: Ich bin keine Juristin, aber in der Türkei müssen Journalisten leider halbe Juristen werden, da die Auseinandersetzung mit der Justiz unumgänglich ist. Auch vor der AKP waren Anklagen gegen Journalisten oft auf Vermutungen oder gar Hörensagen basierend. Und das hat sich unter der AKP nicht verändert. Eigentlich kann ich es noch immer nicht ganz realisieren, dass Füsun nun seit knapp vier Jahren uns aus dem Gefängnis heraus Beiträge und Kolumnen schreibt. Jetzt warten wir alle auf den Ausgang des Berufungsverfahrens.

derStandard.at: Sie haben einmal die türkische Medienlandschaft als "türkisch, männlich und militaristisch" beschrieben.

Mater: Ja, weil sie ja so ist. Nehmen wir etwa die Kriegsrhetorik der Mainstream-Medien in Bezug auf Syrien. Eine Zeit lang hätte man fast meinen können, so mancher Kolumnist wünsche sich eine unmittelbare militärische Konfrontation mit Syrien. Dieser Militarismus ist aber ein gesellschaftliches Problem. Unser Medienverständnis ist quasi darin eingebettet. Heute kenne ich den Namen des aktuellen Luftwaffenchefs nicht mehr, aber früher kannte man Namen aller hohen Generäle in der Türkei. Können sie mir den Namen eines hohen, österreichischen Generals sagen? Ich will in einem Land leben, in der die Namen hoher Generäle irrelevant sind.

Unsere Medienlandschaft ist "männlich", obwohl der Anteil der Frauen in den türkischen Medien rasant wächst. Sie wird dennoch männlich geprägt bleiben, da die Chefredaktionen und Verlagschefs männlich geblieben sind. Die viel besprochene gläserne Decke ist hier anzuführen. Frauen dürfen journalistisch tätig sein, aber eine Zeitung nicht führen. Den einzigen Lichtblick, den ich persönlich sehe, ist der Umstand, dass Aydin Dogan (Medienchef der Dogan Holding, Anm.) vier Töchter hat und die ihn eines Tages beerben werden (lacht).

derStandard.at: Die Türkei nach den Gezi-Protesten. Wie wird es weitergehen und gibt es Hoffnung in Bezug auf die Pressefreiheit?

Mater: Ich bin trotz allem guter Hoffnung. Die Gezi-Proteste haben gezeigt, wie heterogen die Türkei sozial und politisch ist und wie selbstverständlich diese Heterogenität auch politisch ausgedrückt wird. Es gibt Probleme, über die haben wie ja ausführlich gesprochen, aber die gesellschaftliche Entwicklung macht mich doch hoffnungsvoll, gerade weil der Anteil der Jugend bei den Protesten so hoch gewesen ist. Wie tief der Schock bei der Regierung sitzt, merkt man daran, dass AKP-Politiker noch immer das Bedürfnis verspüren, die Proteste in ein illegitimes Licht rücken zu wollen. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 9.12.2013)