Wanderzirkus Indien: Roberto Rossellini erfindet in "India, Matri Bhumi" das Land neu.

Foto: filmmuseum

Wien - Menschengewusel auf den Straßen und die Überforderung, diesem Bild aus einer Position der Übersicht zu begegnen: Das ist einer der wiederkehrenden Eindrücke, wenn es im Kino um Indien geht. Nicht nur bei Slumdog Millionaire, auch bei Roberto Rossellini, der sich mit India, Matri Bhumi 1958 dem indischen Subkontinent zuwandte: Der Film, eine genuine Verquickung von dokumentarischen und fiktionalen Verfahrensweisen, beginnt mit Totalen auf Mumbai, den Horden auf den Gehwegen und Rädern - die davon beeindruckte Erzählstimme liest die diversen Völkergruppen auf, die sich hier zu einem Strom vereinen.

Um das Land besser verstehen zu können, muss der Film allerdings selbst zum Fremden werden. In mehreren Episoden verwandelt sich Rossellini einheimischen Männern an - einem Arbeiter, der Elefanten, die "Zugmaschinen" Indiens, führt, einem Dammarchitekten oder einem einfachen Bauern im Busch - und entwirft darüber die Erzählung eines Lebens, die zugleich auch eine Art multiperspektivische Biografie dieses Landes ist. Mythos und Modernität, die Spuren der Kolonialgeschichte und die widerstreitenden Kräfte nach der Unabhängigkeit - all das fließt in die oft spektakulären Bilder von India, Matri Bhumi ein, der sich, so Godard einmal, einer "Schöpfung" verschreibt, also nach mehr als einer Darstellung trachtet.

Im Österreichischen Filmmuseum ist der selten gezeigte Film Teil von Nach Indien! Projektionen aus Europa und Amerika. Parallel zu einer Schau über das Frühwerk des indischen Regisseurs Satyajit Ray, der seinem Land in den 1950ern erstmals Aufmerksamkeit im westlichen Kino sicherte, lotet dieses Programm jene von romantischen Sehnsüchten und Mysterien besetzten Blickweisen aus, welche viele Arbeiten westlicher Filmemacher über Indien kennzeichnen.

Die Zusammenstellung der Filme richtet sich nach einem Buch sowie Reihen (u. a. in der Londoner Tate Modern) des britisch-indischen Kurators Shanay Jhaveri. Sein Augenmerk liegt auf Arbeiten, die einen inneren Widerspruch austragen, ein Bewusstsein über das Blickproblem ihres Unterfangens haben, ohne dieses gleich auflösen zu können. Ein schönes Beispiel dafür ist Bhowani Junction (1956) von George Cukor, in dessen Mittelpunkt eine von Hollywood-Star Ava Gardner verkörperte Frau aus einer Mischehe zwischen einem Briten und einer Inderin steht; die Selbstbestimmung der eigenen Identität verläuft hier tangential zu jener des Landes, aus dem sich die britische Kolonialmacht demnächst zurückziehen wird.

Rollen in Bewegung

Bhowani Junction zeichnet zwar ein idealisiertes Bild der Briten - Stewart Granger spielt den edelmütigen Colonel, der auch zum "love interest" befördert wird -, dennoch bringt Cukor wie in vielen seiner Filme auch hier Rollenmuster in Bewegung: Es ist die leidenschaftliche Zerrissenheit seiner Heldin, die sich im Laufe des Films mehrmals neu entwirft, die am eindringlichsten von der inneren Dynamik der Nation erzählt.

Man kann die Undurchdringlichkeit des Landes aber auch als unüberwindbaren Ausgangspunkt setzen wie Alain Corneaus Nocturne Indien, ein jüngeres Beispiel der Reihe. Jean-Hugues Anglade spielt einen Franzosen, der auf der Suche nach einem verschollenen Freund nach Indien kommt und sich dort selbst verliert. In Corneaus farbintensivem Film bleibt jede Figur ein Mysterium und der Versuch, dem anderen näherzukommen, schon im Ansatz falsch; es sei denn, man ist bereit, die eigene Subjektivität hinter sich zu lassen.

Dass dieser Schritt der Selbstaufgabe nicht einmal Indern so leicht gelingt, davon erzählt jedoch schon Pier Paolo Pasolinis Kurzessayfilm Appunti per un Film sull'India (1968): Wer würde sich wie in einer Fabel heute noch hungrigen Tigern zum Fraß vorwerfen? Die Antworten sind ernüchternd. Aber dies ist wohl auch ein Frage, die nur einem westlichen Intellektuellen einfallen kann. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 6.12.2013)