Bild nicht mehr verfügbar.

Mouhanad Khorchide, Sohn palästinensischer Flüchtlinge, wuchs in Saudi-Arabien auf. Er lebte, studierte und arbeitet in Österreich, bevor er nach Deutschland ging.

Foto: apa
Foto: herder

In einem sozialwissenschaftlichen Studium, also in einem "Lesestudium", lernt man, wie zentral und entscheidend der erste Satz eines Textes sein kann. "Herr Khorchide, das, was Sie uns über den Islam erzählen, klingt sehr sympathisch!": Das ist der erste Satz im Buch vom Islamtheologen Mouhanad Khorchide "Islam ist Barmherzigkeit". Zusammen mit der Folgepublikation "Scharia – der missverstandene Gott" hat der aktuelle Leiter des Münsteraner Zentrums für Islamische Theologie (ZIT) einen Versuch unternommen, eine neue Theologie zu formulieren. Die von seinen Kritikern vielgeschmähte "Theologie der Barmherzigkeit" steht, so Khorchide, einer "Theologie der Angst und des Gehorsams" entgegen.

In Saudi-Arabien sozialisiert

Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge wuchs in Saudi-Arabien auf, und diese Erfahrung prägt ihn – nach eigenen Angaben – bis heute. So sind seine Erfahrungen mit dem saudischen Islam auch Ausgangspunkt seiner "Theologie der Barmherzigkeit". In einer absoluten Monarchie, die mit einer puristischen Bewegung namens Wahhabismus ein bis heute andauerndes Bündnis eingegangen ist, wurde selbst der muslimische Palästinenser Khorchide Zeuge von sozialer und politischer Ausgrenzung. Während selbst die palästinensischen Glaubensbrüder im saudischen Königreich keine Krankenversicherung abschließen können oder studieren dürfen, was sie wollen, erinnert sich Khorchide an seine Verwunderung, als er als junger Student in Österreich bereits nach wenigen Tagen Aufenthalt in den Genuss einer Krankenversicherung kam. Ein Akt der Barmherzigkeit, aber von vermeintlichen "Ungläubigen": Hier beginnt seine "Theologie der Barmherzigkeit" eigentlich.

Nicht neu, aber integrativ

Deutschsprachige Bücher über Islamische Theologie, die keine reinen Übersetzungen sind, sind rar. Populärwissenschaftliche Bücher, die noch dazu eine öffentliche Debatte auslösen, ebenso. Die zweiteilige Publikation Khorchides ist damit auf jeden Fall ein Gewinn. Noch dazu zeigt sie die tiefen Risse in der Auslegung der islamischen Religion bis zum heutigen Tag. Denn Khorchide erfindet das Rad nicht neu. Kritik am durch Petrodollars aufgeputschten Wahhabismus ist ebenfalls nicht neu; die Kritik am umayyadischen Kalifen Muawiya, der die Diktatur im Islam legitimiert haben soll, ist nicht neu; der Wunsch nach einer neuen mutazilistischen (sprich rationalistischen) theologischen Schule ist nicht neu, und die Kritik am zeitgenössischen Theologentum, das sich darin erschöpft, immer neue Möglichkeiten zu suchen, um den Muslimen dieses oder jenes zu verbieten, ist ebenso altbacken. Doch Khorchides Leistung ist es, diese Teildebatten und einzelnen Aspekte einer notwendigen und gerade deshalb leidenschaftlichen Debatte zu einem großen Ganzen zusammenzuführen. Die "Theologie der Barmherzigkeit" ist die Summe dieser vielen Diskussionen rund um die "richtige" Auslegung des Islam - und dies nicht nur in der europäischen Diaspora.

Gott ist die Barmherzigkeit selbst

Der Name ist Programm, und wenn Gott die Barmherzigkeit selbst ist, dann kann er unmöglich alle Nichtmuslime oder Sünder für immer den Höllenqualen aussetzen wollen. Daher verschwimmt in der "Theologie der Barmherzigkeit" die Hölle zu einem nebulösen Gleichnis. Ein Affront sondergleichen, der von seinen zahlreichen Kritikern auch so verstanden worden ist. Und der Prophet der Muslime? Einerseits der Gesandte Gottes, gewiss, doch eben auch Staatsmann und in dieser Rolle ein Sozialreformer. So müsse das islamische Erbrecht, das Frauen klar benachteiligt, neu gelesen werden. Da Frauen im vorislamischen Zeitabschnitt gar nicht erbberechtigt waren, habe der Prophet einen ersten Schritt gemacht, und dies müsse konsequent fortgesetzt werden. Den Koran im historischen Kontext zu interpretieren ist eine oft vorgetragene Idee, Khorchide zieht sie aber konsequent durch. Und die Scharia? Ein menschliches Konstrukt, so Khorchide. Er führt dabei ein bemerkenswertes Beispiel aus Saudi-Arabien an. Einst sei das Fotografieren (in der Öffentlichkeit) verboten gewesen, da es angeblich "in Konkurrenz zum Akt der göttlichen Schöpfung" gestanden sei. Heute wäre es erlaubt, doch in beiden Fällen durch die Scharia legitimiert.

Wenig überraschende Kritik an Khorchide

Khorchides "Theologie der Barmherzigkeit" fasst also nicht nur ein heißes Eisen an, sondern nimmt alle heißen Eisen der theologischen Debatte auf einmal in die Hand. Dabei ist Khorchide wenig zimperlich mit jenen, die er als Widersacher der "Theologie der Barmherzigkeit" ausmacht. Und da kommt es zum Bruch in der konkreten Auseinandersetzung. Denn die Bandbreite an Widersachern ist groß, da finden sich die saudischen Wahhabiten ebenso wie die Repräsentanten eines traditionellen Islamverständnisses, also quasi alle Islamverbände, die sich in Deutschland konstituiert haben. Aber mit jenen müsste Khorchide als Leiter des Zentrums für Islamische Theologie eigentlich zusammenarbeiten. Es wird gemunkelt, dass Khorchide das Vertrauen durch die Verbände entzogen werden wird. Doch die "Theologie der Barmherzigkeit" wird bleiben müssen, allein deshalb, weil sie eine offene Debatte symbolisiert, die die Muslime Europas in Zukunft immer selbstverständlicher werden führen müssen.