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Ruchir Sharma

 

Foto: Archiv

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Lage der Schwellenländer nach den jüngsten Turbulenzen?

Sharma: Die Wachstumserwartungen wurden nach einem Jahrzehnt großer Steigerungen zurückgenommen. Das hat zu großer Enttäuschung geführt, aber ich sehe darin nicht die Basis einer Krise.

STANDARD: Zweckoptimismus?

Sharma: Ich verfolge die Schwellenländer seit 20 Jahren und richtige Krisen gesehen. Ich war kürzlich in Indonesien und habe keine Anzeichen von Panik gesehen, vergleichbar mit 1998, als es zu Unruhen auf den Straßen kam. Eine Krise sieht sehr viel anders aus. Der Punkt ist, dass die Leute vergessen haben, dass die Märkte in den Schwellenländern sehr stark schwanken können; dass die Wachstumsraten nicht auf alle Zeiten hoch bleiben können. Das heißt nicht, dass es in einzelnen Staaten nicht zu Krisen kommen wird, aber ich sehe keine Gefahr einer Kettenreaktion, von der alle Schwellenländer erfasst werden.

STANDARD: Die Furcht vor Kapitalabflüssen ist dennoch groß.

Sharma: Direktinvestitionen wurden nicht abgezogen, selbst der Abfluss von Portfolioinvestitionen ist relativ moderat. Nehmen sie Indien: An den Kreditmärkten kam es zu einem geringen Rückgang ausländischer Veranlagungen, am Aktienmarkt zu gar keinem. Klar ist, dass die Wachstumsraten sinken, aber sie werden weiterhin hoch sein. Dazu tragen die lokalen Ersparnisse wesentlich bei, die beispielsweise in Indien ein Wachstum von fünf bis sechs Prozent ermöglichen.

STANDARD: Wie sieht die Risiko-Skala aus?

Sharma: Nicht alle Schwellenländer haben eine negative Handelsbilanz - u. a China. Natürlich sind Staaten mit einem Defizit verwundbarer, aber selbst dort muss man unterscheiden: Beispielsweise sind die Türkei und Südafrika gefährdeter, weil sie über eine längere Periode negative Handelssalden von fünf Prozent der Wirtschaftsleistung produziert haben. Dieser Wert kann empirisch als Schwelle gesehen werden, ab der es zu Krisen kommt. In Indien, Indonesien oder Brasilien sind die Lücken geringer und es gibt Anzeichen, dass sie zurückgehen.

STANDARD: Was passiert, wenn die US-Notenbank Fed wirklich die Zügel enger zieht?

Sharma: Viel hängt von der Geschwindigkeit des Rückzugs ab. Was wir gesehen haben, war ein erster Schock, aber jetzt gewöhnen sich die Märkte daran. Es wird zu weiteren Abwertungen der einzelnen Währungen kommen.

STANDARD: Sie haben in Ihrem Buch "Breakout Nations" beschrieben, dass immer neue Länder aufstreben und das Wachstum anführen. Wer sind derzeit Ihre Favoriten?

Sharma: Ich würde sagen, trotz der politischen Turbulenzen Thailand und die Philippinen. In Südamerika setze ich auf Kolumbien und Peru. Dazu kommen einzelne Länder aus verschiedenen Regionen wie Polen, Sri Lanka und mehrere afrikanische Staaten.

STANDARD: Welches Problem haben Sie mit der Abkürzung Bric (Brasilien, Russland, Indien, China)?

Sharma: Diese Akronyme waren populär, als alle Schwellenländer boomten. Da konnte man alle Staaten über einen Kamm scheren, die sexy klingen und sie vermarkten. Es gibt aber keine gemeinsame Basis für Bric, die Situation der Staaten ist sehr unterschiedlich.

STANDARD: Aber es gibt ein Investorenverhalten, das zu ähnlichen Marktreaktionen führt?

Sharma: Nehmen Sie die letzten Turbulenzen: Staaten mit einem positiven Handelsbilanzsaldo wie China, Taiwan oder Korea waren davon nicht betroffen. Es kann zu kurzfristigen Reaktionen kommen, die einheitlich sind, aber der große Trend ist die Differenzierung. Die Schwellenländer zeichnen heute für 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung verantwortlich, da kann man nicht pauschal von einer Region sprechen.

STANDARD: Apropos China: Viele Experten warnen vor einer Kredit- und Immobilienpreisblase.

Sharma: Das ist berechtigt. Vor zehn Jahren produzierte man in China mit einem Dollar Kredit einen Dollar Wertschöpfung. Heute benötigt man vier Dollar Kredit für die gleiche Wirtschaftsleistung. Das ist nicht nachhaltig. Die Geschichte lehrt, dass derart exzessive Steigerungen bei der Verschuldung zu Krisen führen. Deshalb sollte man bei China wachsam sein. Wenn das Kreditwachstum so anhält, droht ein Crash.

STANDARD: Wie kann gegengesteuert werden?

Sharma: Mit weniger Wachstum. Ich rechne mit nur noch fünf bis sechs Prozent Wachstum in der nächsten Dekade. Die Führung in Peking hat das noch nicht akzeptiert. Das Ziel von sieben Prozent ist immer noch zu hoch. (Andreas Schnauder, DER STANDARD, 4.12.2013)