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Oscar Pistorius: Technische Selbstüberarbeitung, die nicht verborgen, sondern selbstbewusst vorgetragen wird.

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Karin Harrasser: "Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen"
Transcript Verlag, Bielefeld 2013,
139 Seiten,
ISBN: 978-3-8376-2351-2

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Unauffälligkeit und Produktivität. Das waren laut Karin Harrasser die Gründe der Versorgung der Kriegsversehrten des 1. Weltkrieges mit Prothesen. Ganz anders sieht die Gegenwart des "homo protheticus aus", dessen Genese die Kulturwissenschafterin in ihrem Buch "Körper 2.0" nachdenkt. Längst geht es um "technische Selbstüberarbeitung", die nicht verborgen, sondern selbstbewusst vorgetragen wird. Prominestes Beispiel ist für Harrasser der ohnbeinige Läufer Oscar Pistorius. Anhand seiner Biografie macht sie die Frage nach einer "Freiheit zur Selbstverbesserung" versus "der Grenze der Selbstüberformung" auf.

Dass der Tod von Pistorius Freundin Reeva Steenkamp, den der Weltrekordhalter absichtlich oder unabsichtlich zu verantworten hatte, nur mit einem Halbsatz erwähnt wird, ist wohl dem Erscheinungstermin des Buches im Herbst 2013 geschuldet. Der Mordprozess gegen Pistorius wird erst im März 2014 stattfinden. Trotzdem bleibt die Optik in diesem Punkt seltsam.

Aimee Mullins als Role-Model einer "Anderskörperlichkeit"

Gelungener erscheint Harrassers Erzählung der "adaptability" am Beispiel der Leichtathletin Aimee Mullins, der wie Pistorius auf Grund einer genetischen Fehlbildung beide Beine unterhalb der Knie amputiert wurden. Sie, Mullins, reüssiert als Covergirl und Motivationsrednerin, kurz als Role-Model einer "Anderskörperlichkeit" – die in dieser, neuen Logik "privilegierte Subjekte einer Teleologie der technischen Erweiterung" sind. Mullins steht laut Harrasser für die Einstellung: "Du musst Dir deinen Körper nur so oder so denken  oder wünschen – nämlich stärker, schneller, schöner, rätselhafter -, dann wird er auch so". Körperliche Widrigkeiten sind in dieser Logik keine Grenzen, sondern Herausforderungen, die den Kampfgeist anstacheln.

Diesem zweifelhaften Optimismus steht die Kulturwissenschafterin und Germanistin Harrasser, Professorin an der Kunstuni Linz, ebenso skeptisch distanziert gegenüber wie einer übertrieben Technologiefeindlichkeit. Dass "das Ausloten des transformativen Potentials von Technologien und Fiktionen nicht zwingend zu Allmachtsphantasien à la Transhumanismus, Kryptotechnik und Weltraumeroberung führen muss" hat sie u.a. Donna Haraways "Ein Manifest für Caborgs. Feminismus im Streit mit Technowissenschaften" entnommen.

Gläserne Google-Glass-NutzerInnen

Die "XTEXTE" des Transcript Verlages haben den Anspruch, "ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten". Dies ist mit diesem Buch sicherlich insofern gelungen, als Harrasser über den akademischen Diskurs hinaus Anschlüsse in die uns umgebende Warenwelt wagt. So widmet sie nach einem spannenden medienwissenschaftlichen Exkurs (Warum Medien keine Prothesen sind) ein Kapitel den Brillen und andere Gläsern.

Sie bezeichnet Google Glass als "ein Gerät, das die Wirklichkeit laufend beschriftet" und reflektiert seine Implikationen: "Die Google Glass NutzerInnen werden selbst gläsern sein." Harrasser erinnert uns aber auch daran, dass erst "das retardierende, das katechontische Moment" aus dem Lesen oder der Bildbetrachtung eine Kulturtechnik macht.

Nach einem historischen Kapitel, das mit Foucault und Deleuze auch die Machtstrukturen näher durchleuchtet, kommt sie zu ihrer Conclusio, die "teilsouveräne statt verbesserte Körper" vorschlägt. Ein spannender Ansatz, der noch einen liebevolleren editorischen Umgang verdient hätte. (Tanja Paar, dieStandard.at, 3.12.2013)