Kinderarzt Klaus Vavrik fordert eine parlamentarische Kinderkommission.

Foto: Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit

STANDARD: Wir warten auf das neue Regierungsprogramm. Wie sehr waren Sie in die Verhandlungen zu Gesundheitsfragen involviert?

Vavrik: Bei Verhandlungen haben wir keine Stimme, haben lediglich über die Gesundheitssprecher der Parteien ein Papier eingebracht. Es wurde uns versprochen, unsere Anliegen zu berücksichtigen. Wir sind gespannt, welche unserer langjährigen Forderungen umgesetzt werden.

STANDARD: Beginnen wir noch vor der Geburt. Viele Länder beneiden uns um den Mutter-Kind-Pass.

Vavrik: Das stimmt, allerdings ist dieser Mutter-Kind-Pass seit 17 Jahren nicht valorisiert. Ursprünglich hatte er den Sinn, die Säuglingssterblichkeit zu senken, und dieses Ziel wurde erreicht. Seit 2006 ist diese Rate aber durch die Frühgeborenen und die Mehrlingsgeburten der Fortpflanzungsmedizin wieder stark gestiegen. Österreich liegt in Europa an der fünftschlechtesten Stelle. Allerdings haben wir heute mit ganz anderen Herausforderungen in Bereich der Kindergesundheit zu kämpfen.

STANDARD: Und zwar?

Vavrik: Früher waren es vor allem die Mangel- und Infektionskrankheiten, heute machen uns die sogenannten Lebensstilerkrankungen von Kindern zu schaffen, wie mangelnde Bewegung, Übergewicht, Essstörungen und Suchterkrankungen. Ein großes Versorgungsproblem haben wir bei chronischen Entwicklungsstörungen wie Lernschwächen, Behinderungen und Autismus. Zunehmend gibt es aber auch psychosoziale Regulations- und Integrationsstörungen - vor allem die Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Fragt man die Lehrer, hört man: das Sozialverhalten von Jugendlichen werde immer schwieriger. Das Ludwig Boltzmann Institut für Gesundheitsförderungsforschung hat das in der Studie "Health and Behaviour in school aged children" genau untersucht. Dieser Report erscheint alle drei Jahre und erlaubt Vergleiche zwischen den Ländern. Österreich ist im Bereich Gesundheit und Risikoverhalten von Kindern an letzter Stelle.

STANDARD: Was tun?

Vavrik: Aus meiner Sicht wäre es am wichtigsten, neue Präventionsmodelle auf den Weg zu bringen. Erwiesenermaßen haben sich die sogenannten "Frühen Hilfen" bewährt. In Deutschland gibt es seit vielen Jahren ein nationales Zentrum für frühe Hilfen. Die Idee ist, Familien mit besonderen Belastungen sehr frühzeitig, also schon rund um Schwangerschaft und Geburt aufsuchend betreuen.

STANDARD: Was verändert sich dadurch?

Vavrik: Wir wissen, dass zumindest fünf Prozent der Kinder unter besonders schwierigen Bedingungen leben und dadurch eine massiv höhere Krankheitslast haben. Je früher geholfen wird, desto besser wirkt es. Das ist ein "social return on investment" von eins zu 18. Das heißt, jeder investierte Euro am Lebensbeginn verhindert spätere Entwicklung chronischer Krankheiten. Kinder, die gesund aufwachsen, werden gesunde Erwachsene. Das ist ein Faktum. Der wichtigste Einflussfaktor in dieser Rechnung ist der soziale Gradient.

STANDARD: Das müssen Sie erklären.

Vavrik: Damit meint man zum einen das zur Verfügung stehende Geld einer Familie, aber auch andere Risikofaktoren spielen eine Rolle: die Beziehung der Eltern, Gewalterfahrung, Bildungsstand, psychische Erkrankungen der Angehörigen. Je mehr Risikofaktoren ein Kind gleichzeitig betreffen, desto höher ist die Belastung. Ein Kind, dessen Lebensumfeld mehr als fünf Risikofaktoren gleichzeitig aufweist, wird bis zum 15. Lebensjahr mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit psychisch krank.

STANDARD: Was folgt daraus?

Vavrik: Wir brauchen uns nur die aktuelle Situation zu Depression und Angsterkrankungen anzusehen. Die Zahlen gehen stetig in die Höhe, ähnlich bei bei Diabetes und Übergewicht. Die Wurzeln dafür liegen in der Kindheit, dort müssen wir ansetzen.

STANDARD: Wie sollte das konkret aussehen?

Vavrik: Es geht darum, flächendeckend in Österreich Strukturen zu schaffen. Andere Länder machen das längst, weil die Probleme ja lange bekannt sind. Die "Gesundheit Österreich" hat im Auftrag des Gesundheitsministers konkrete Modelle für frühe Hilfen in Österreich entwickelt. Wir sind Weltmeister im Pläneschmieden, aber Schlusslicht im Umsetzen. Österreich investiert 2,5 Prozent der Gesundheitsausgaben in Prävention, in anderen Ländern sind es bis zu sechs Prozent.

STANDARD: Was ist am dringendsten notwendig?

Vavrik: Neben der Prävention ist es der Zugang zu Therapie. Kinder müssen in Österreich sehr lange auf Therapieplätze warten, es gibt zu wenig kostenfreie Angebote, sondern hauptsächlich solche mit Selbstbehalten - und genau die können sich einkommensschwache Familien nicht leisten. 130.000 Kinder leben in Armut, 270.000 sind von Armut gefährdet. Wir fordern die Abschaffung sämtlicher Selbstbehalte im Bereich Kindergesundheit und leistbare Therapieangebote.

STANDARD: Sie meinen in Spitälern?

Vavrik: Nicht nur. Wir müssen Angebote für Psychotherapie, Ergotherapie, Logopädie  und Physiotherapie schaffen. Wir brauchen auch niedergelassene Kinderpsychiater. In Wien gibt es nur eine einzige niedergelassene Kinderpsychiaterin auf Krankenschein, im Burgenland gibt es keine einzige Logopädin auf Krankenschein, in Niederösterreich keine Ergotherapeutin. Wer auf dem Land ein Kind mit Behinderung hat, muss zur Behandlung oft stundenlang in die nächste Stadt fahren oder eben privat zahlen. Es gibt keine Alternative. Keiner regt sich großartig darüber auf.

STANDARD: Was wäre bei der Kinderrehabilitation zu tun?

Vavrik: Auch hier gibt es konkrete Pläne, die nicht umgesetzt werden. Traditionellerweise geht es bei Rehabilitation um die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und deswegen sind die Sozialversicherungen gefordert. Bei Kindern geht es um etwas ganz anderes, nämlich um die bestmögliche Entfaltung der Entwicklungspotenziale - das gilt auch für körperliche, psychische und geistige Beeinträchtigungen.

STANDARD: Wo hakt es?

Vavrik: Krankenkassen und Ländern streiten, wer dafür finanziell aufkommen soll. Es gibt 7.700 Rehabplätze für Erwachsene und kein einziges Zentrum für Kinder. Ich erinnere mich an das Jahr 1997, schon damals war Rehab für Kinder ein Thema. Seit damals bestimmen Verhandlungen, Rückschläge und Vertagungen die Dynamik. Die Inhalte sind fertig, 350 Plätze würden den Bedarf abdecken, es scheitert an der Finanzierungen. Flapsig kann man sagen: Kinder haben halt keine Wählerstimme. Es gibt keinen großen Protest, wenn man Kinderrehabilitation um weitere fünf Jahre aufschiebt. Genau deshalb fordern wir auch eine parlamentarische Kinderkommission, die Kindern eine Stimme im Parlament gibt und Entscheidungen unter dem Blickwinkel der Kindergesundheit betrachtet. Kinder sind unsere Zukunft, wir sollten ihnen eine Stimme und einen Platz in der Gesellschaft geben.

STANDARD: Greift die Verortung vom Kindeswohl allein im Gesundheitsbereich nicht zu kurz?

Vavrik: Es wäre schön, wenn sich die Politik das Motto "Health in all policies" an die Fahnen heften würde, die Realität sieht anders aus. Wir haben die höchste Raucherrate bei Kindern und Jugendlichen in ganz Europa, weil es hier auch um Wirtschaftsinteressen geht. Das Verhalten von Kindern ist ein Produkt der Gesellschaft und ihrer Rahmenbedingungen.

STANDARD: Wer übernimmt Verantwortung?

Vavrik: Es ist eher so, dass sich die Institutionen die Verantwortung gegenseitig zuschieben. Sozialversicherung, Länder, Familienministerium, sogar das Wirtschaftsministerium. Kinder sind eine wichtige Zielgruppe für das Marketing von Unternehmen. Wem das Wohlergehen zukünftiger Generationen wichtig ist, muss Kinder und Jugendliche vor Werbung schützen, sofern sie Kinder in die Irre führt. Aber so ist die Dynamik von Wirtschaftsinteressen und Profit. Es ist bezeichnend, dass in den finanziellen Engpässen der aktuellen Regierungsverhandlungen die Familienbeihilfe als erstes in Frage gestellt wird.

STANDARD: Näher als der Staat sind für Kinder die Eltern. Ist Geld allein die Lösung?

Vavrik: Eltern haben eine Schlüsselposition für die Entwicklung der Gesundheit ihrer Kinder. Wer Kinder behandeln will, darf ihr familiäres Umfeld nicht ausblenden. Wir plädieren deshalb dringend dafür, dass wir bei entsprechenden Indikationen die Eltern in eine Therapie einbeziehen dürfen und das über die e-Card des Kindes abgerechnet werden kann. 

STANDARD: Um welche Indikationen geht es?

Vavrik: Im Wesentlichen um Fragen des Lebensstils und der Erziehungskompetenz, wie etwa bei Adipositas. Es bringt wenig, Kinder in den Ferien auf ein Camp zu schicken. Das kann nur Teil eines größeren Plans sein, denn Essen findet überwiegend zu Hause statt. Aber auch der Umgang mit modernen Medien ist zunehmend ein Thema. Wenn den ganzen Tag der Fernseher läuft, dann müssen wir mit Aufmerksamkeitsdefizitstörungen in der Schule rechnen und Sprachentwicklungsdefizite aufholen, sie beim Lernen unterstützen. Elternarbeit ist eine Möglichkeit, hier zu einem sehr frühen Zeitpunkt gegenzusteuern. Dafür brauchen wir aber Auftrag und Ressourcen. So etwas muss auch abgerechnet werden können. Ich denke, es ist sinnvoll, in Eltern zu investieren, weil Kinder davon profitieren. Auch Aufklärungskampagnen zu Themen wie Gewalt könnten einen wichtigen Beitrag leisten. (Karin Pollack, DER STANDARD/derStandard.at, 3.12.2013)