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Frontkämpferstatue im nordfranzösischen Ort Cappy im Département Somme.

Foto: Reuters/Rossignol

Es gibt kaum etwas Trostloseres, als durch die weiten Ebenen Ostfrankreichs zu fahren. Überall Soldatenfriedhöfe und Hinweistafeln auf Schlachtfelder wie Verdun, Marne, Somme oder Chemin des Dames - jedes ein Symbol industrieller Kriegsführung und der Borniertheit ganzer Nationen. An all das würde man am liebsten nicht mehr denken. Doch zwischen Lothringen und der Champagne stößt der Erste Weltkrieg weiterhin seine Überreste aus. Manchmal findet ein Bauer eine Granate im Erdreich, manchmal fährt ein Pflug in ein verrostetes Eisenstück. In Massiges, einem Schauplatz der Marneschlacht, kamen noch kürzlich zwei Soldatenskelette an die Oberfläche.

Diese Relikte gesellen sich zu den Kriegsdenkmälern, den "Monuments aux morts", die in jedem französischen Dorf zu finden sind und Kunde geben vom furchtbaren Blutzoll, den die Franzosen im Ersten Weltkrieg entrichteten (für den Zweiten Weltkrieg wurden die weniger zahlreicheren Namen nur noch angehängt). Deshalb spricht man in Paris auch von "Grande Guerre", vom Großen Krieg. Jede französische Familie verlor einen der ihren oder sah sie nur als "gueule cassée" wieder, das heißt mit zusammengeflickter Visage oder Seele.

Trostlose Zahlen

Auch Zahlen können furchtbar trostlos sein. 1.320.000 französische Soldaten fielen in diesem mörderischsten Krieg Frankreichs, mehr als vier Millionen wurden verletzt, im gleichen furchtbaren Ausmaß wie Deutsche, Russen, Österreicher, Engländer oder andere Alliierte. Allein vor der Provinzstadt Verdun, die heute eine begrünte Mondlandschaft aus Bombenkratern und Schützengräben umgibt, wurden 600.000 Mann geopfert, und dies für keinerlei Geländebeginn, für keinen strategischen Durchbruch - für nichts.

Im Sommer 1917 explodierten dort in einer einzigen Woche fünf Millionen Geschoße. Das macht, wie ein Militärhistoriker ausrechnete, sechs Tonnen pro Meter Front. Die Soldaten erlitten, wenn sie von den Granaten nicht zerfetzt wurden, auf die Dauer meist einen "shell shock", wie die Briten sagen. Viele Frontkämpfer drehten unter dem dauernden Bombenhagel und -getöse ganz durch und landeten im Irrenhaus. Auf ihre Spuren stößt man in Frankreich ebenfalls noch heute. Im Ort Cadillac unweit von Bordeaux findet sich etwa ein vergessener Friedhof mit 900 "mutilés du cerveau" (wörtlich: Hirnkrüppeln), und wer vor wenigen Jahren noch zwischen den Gräbern über den Kies schritt, stieß makabrerweise auf Knochensplitter. An wahnsinnig gewordenen Schlachtfeldveteranen zählte Frankreich mehr als hunderttausend. Von der offiziellen Geschichtsschreibung wurden sie weitgehend ausgeblendet.

Rehabilitation - Ja oder Nein?

Erst jetzt füllt Frankreich die letzten Lücken im Gedenken an den Krieg, der so nichts von einem "großartigen" (das kann das Wort "grand" auch bezeichnen) hat. Anlass bietet natürlich der 100. Jahrestag, den Frankreich weit ausführlicher begeht als etwa Deutschland. Der Minister für Kriegsveteranen, Kader Arif, lancierte zum Beispiel schon im Oktober eine öffentliche Debatte, ob die bis zu 650 Meuterer und Defätisten der französischen Armee, die im Ersten Weltkrieg standrechtlich erschossen worden waren, rehabilitiert werden sollten. Arif will sie, wie er meint, "wieder in das nationale Gedenken integrieren".

Gewisse Kriegsaspekte bleiben in Frankreich aber auch hundert Jahre später zu präsent, um gelassen aufgearbeitet werden zu können. Das gilt unverständlicherweise auch für die Verbrüderung von Soldaten der verfeindeten Lager. Deutsche und französische Soldaten waren zu Weihnachten 1914 aus den - teilweise auf Rufweite nahen - Schützengräben geklettert und hatten zusammen die Geburt Jesu gefeiert, unter anderem zu Liedern eines bayrischen Tenors, den die Franzosen am eifrigsten beklatschten.

Gäbe es ein schöneres - gelebteres! - Bekenntnis für ein geeintes Europa? Der Dokumentalfilmer Christian Carion hat eine Petition gestartet, um zu Weihnachten 2014 einen Gedenkstein an dem Ort des Geschehens zu errichten. Allein, die offiziellen Stellen und auch die Armeestäbe zeigen dem Anliegen die kalte Schulter. Wo käme man hin, wenn sich alle Soldaten der Welt über die Schützengräben hinweg verbrüderten?

Selbst die in Paris heute so eifrig zelebrierte deutsch-französische Freundschaft stößt bei der historischen Aufarbeitung an Grenzen. Weil 100 Jahre nicht genügen, die erbitterten und kopflosen Grabenkämpfe bei Verdun vollständig auszumerzen? Weil die einen zu den Gewinnern gehörten, die anderen zu den Verlierern? Der gutpatriotische Historiker Max Gallo nennt seinen neuen, zweibändigen Abriss 1918 im Untertitel "der schreckliche Sieg". Schrecklich, aber immerhin. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 30.11.2013)