Florian Illies und Frederic Morton (re.).

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STANDARD: Frederic Morton, Sie sind Schriftsteller. Florian Illies, Sie sind Kunsthistoriker und haben zwar auch Neuere Geschichte studiert, aber nicht akademisch publiziert. Wie haben Sie beide geplant, etwas so Komplexes wie die Situation vor dem Ersten Weltkrieg – sei es in verschiedenen europäischen Ländern, sei es vor allem in Wien – zu behandeln?

Florian Illies: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich ein großer Bewunderer Ihres Buchs Wetterleuchten bin, Mr. Morton. Es war eine der wichtigsten Quellen meines Buches 1913, es hat die Gemengelange in Wien in einer Tiefe beleuchtet, voller wunderbarer Details, die mir bei meiner Arbeit sehr geholfen haben.

Frederic Morton: Vielen Dank! Sowas hört man immer gerne. Zu der Frage: In meinem vorherigen Buch A Nervous Splendor (1980, auf Deutsch: Ein letzter Walzer, 1997) hatte ich mich mit einem sehr konkreten Ereignis befasst, dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf 1889. Was ich dort versuchte, war, eine sehr begrenzte Zeitspanne nicht nur in ihrer politischen, sondern auch in ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Dimension zu erforschen. In Wetterleuchten ging es natürlich um noch viel dramatischere Geschehnisse mit größeren Folgen. Aber ich schrieb es in derselben Absicht: die verschiedenen Dimensionen zu erfassen. Ich denke, dass Sie, da Sie sich das Jahr 1913 vorgenommen haben, Ähnliches beabsichtigten.

Illies: Nochmals: Ihr Buch war für mich wie eine Befreiung, weil ich das Gefühl hatte, hier wird in einer Weise Geschichte erzählt, die über das Akademische hinausgeht – wie Ranke meinte: "wie es wirklich gewesen ist". Ich hab diese Idee noch zugespitzt und versucht, etwas Eigenes zu schaffen. Über Wien 1913/1914 kann man nicht noch einmal erzählen, also wurde es für mich wichtig zu fragen: Wie ging es genau in jenem Jahr 1913 zu, als man nicht wusste, was 1914 geschehen würde. Ich hab' mir also die Quellen angesehen, dadurch ist in meinem Buch eine eigene, "naive" Dynamik entstanden, mit einer Spannung für den Leser, der sehr wohl weiß, was nachher geschah.

STANDARD: Fred Morton nannte in einem Gespräch das, was Sie machten, Sampling.

Illies: Fred Morton ist ein sehr moderner und junger Mann (Morton lächelt), daher nennt er es Sampling. Ich als Kunsthistoriker spreche eher von Collage oder von synthetischem Kubismus, dem Kunststil, den Picasso und Braque genau 1913 praktizierten. Ein für mich interessanter Vergleich, weil hier auch mit Versatzstücken, etwa reinkopierten Zeitungen operiert wurde. Außerdem ist Sampling ein Begriff aus der Musik, und für mich war eine der Herausforderungen, einen Rhythmus in das Buch zu bekommen, aus Schnellem und Langsamem, aus Ernstem und Humorvollem, aus tiefgründig und banal.

STANDARD: Diesen Kunstgriff sozusagen, aus der Zeit heraus zu schreiben, nicht aus der Perspektive des Nachgeborenen, Klügeren, den hat auch Philipp Blom in seinem Buch Der taumelnde Kontinent (The Vertigo Years) verwendet.

Illies: Ich schätze das Buch außerordentlich. Aber ich wollte Europa eben nicht als taumelnden Kontinent beschreiben, sondern mit einem Nichtwissen, in welchem Zustand der Kontinent nun war – zwei ganz unterschiedliche Formen, diese Zeit zu erzählen.

STANDARD: Nun zu möglichen Unterschieden bei Ihnen: In Mortons Buch gibt es ein Zentrum des Kräfteparallelogramms vor dem Ersten Weltkrieg, nämlich Wien. Bei Ihnen scheint es so einen Fokus nicht zu geben.

Illies: Wenn man auf die Städte schaut, ist es unweigerlich so, dass Wien in jenem Jahr die Hauptstadt der Moderne war. Nun kenne ich die Berliner Situation – um Gottfried Benn oder Ernst Kirchner – sehr gut und auch die Münchner Verhältnisse rund um Thomas Mann. Darum habe ich auch diese beiden deutschen Städte in den Fokus genommen. Doch das Zentralgestirn ist Wien. Und mein Buch ist auch eines über das alte Europa – seinen Reichtum, seine Vernetzung und die Transnationalität der großen Kulturschaffenden in den verschiedensten Städten.

STANDARD: Herr Morton, Ihr Buch wird in den USA nach fast 25 Jahren neu aufgelegt.

Morton: Ja, und ich schreibe ein neues Nachwort.

STANDARD: Was ist im letzten Vierteljahrhundert dazugekommen, das man jetzt beachten sollte?

Morton: Nun, es gab seit 1989 keinen weiteren Weltkrieg, aber wohl eine weitere Radikalisierung des westlichen Individualismus. Was mich seinerzeit bei der Recherche an dem Buch am meisten beeindruckte, war die Tatsache, dass keiner der großen Herrscher einen Krieg wollten. Er brach trotzdem aus, weil die Menschen ihn wollten! Überall herrschte Jubel ...

STANDARD: Sie schreiben, dass auch Menschen wie Kokoschka, Schönberg, sogar Freud von dieser Stimmung beseelt waren.

Morton: Oder auch Rilke, der früher einmal geschrieben hatte, das Einzige, das ihn an Deutschland binde, sei die Sprache, und der nun ein großes Kriegsgedicht verfasste. Oder Thomas Mann, der mit seinem Bruder Heinrich heftig stritt, weil er so stolz war, Deutscher zu sein. Trotzki beschrieb in seiner Autobiografie den Maiaufmarsch 1914, wo die Arbeitermassen mit der Losung "Brot und Frieden" auf der Wiener Ringstraße unterwegs waren, und wie sie keine drei Monate später mit dem Slogan „Alle Serben müssen sterben!" marschierten. Und der französische Botschafter in St. Petersburg beschrieb in seinen Erinnerungen dasselbe Umkippen dort. Das alles, weil in einem Zeitalter des Individualismus – der gerade damals besonders prononciert war – jeder auf sich selbst gestellt war und zugleich ein starkes Bedürfnis hatte dazuzugehören. Der Krieg war der Katalysator, der das ermöglichte. Das ist bei jeder Katastrophe so. Letztes Jahr in New York und New Jersey, als wir den Hurrikan hatten, fanden Leute plötzlich wieder zusammen. Für mich war das damals eine sehr wichtige Dynamik, die ich beim Verfassen des Buches zwar erwähnte, aber in ihrer Größe noch nicht erkannte. Und wie Max Weber einmal dem Sinn nach sagte, Geschichte ist ein Netz unbeabsichtigter Folgen. Das Nichtwissen der Leute 1913, von dem Sie, Herr Illies, sprechen, hat sich immer wieder wiederholt. Und immer folgt ein Umkippen. Ein Beispiel: Die New York Times gilt ja als im amerikanischen Sinn liberales Blatt. Als der Irakkrieg ausbrach, wurde es ein Bush-Anhänger. Da war wieder diese Dynamik. Wir leben immer im Jahr 1913.

Illies: Auch in dem Buch des australischen Historikers Christopher Clark mit dem deutschen Titel „Die Schlafwandler" ist von einer Naivität der Politiker die Rede. Sie hätten mit dem Feuer gespielt, aber nicht den Wunsch gehabt, alles in Brand zu setzen. Im Bereich der Kunst und der Literatur, mit dem ich mich hauptsächlich beschäftige, waren hypersensible Menschen wie Trakl oder Schiele, die zwar sehr viele Schwingungen aufnahmen, wo man aber jetzt nicht sagen kann, ob sie eine Ahnung hatten, dass ein Krieg kommen würde, oder nur Ängste spürten. Eine große Weltfremdheit oder Ignoranz gegenüber den politischen Entwicklungen spürt man jedenfalls in deren Aufzeichnungen – während es in der Kultur eine kreative Explosion gab, die durch den Weltkrieg unterbrochen und gestoppt wurde.

Das führt uns zu unserem Urahnen Stefan Zweig. Denn "Die Welt von gestern" hat ja, als er das Wien vor 1914 beschreibt, auch diesen Unterton: Vielleicht war das eine Welt, die gar nicht zum Untergang geweiht war, sondern eine faszinierende Welt, in der die Tradition und die Moderne gleichzeitig existierten, wo es Schiele und Klimt und Trakl und Kraus gab und trotzdem der Kaiser seit 65 Jahren regierte. Das war die Grundlage für mich zu fragen: Was ist 1913 nicht nur zu Ende gegangen, sondern was hat damals begonnen? Man wird natürlich nie wissen, was gewesen wäre, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte.

STANDARD: Die Historiker liefern ja viele unterschiedliche Erklärungen, was zum Krieg geführt hat: Fehler aller Beteiligten, Kriegstreiber in Deutschland und Österreich oder in den anderen Ländern, schlafwandlerische Unachtsamkeit, Zufälle oder, wie Morton zitiert, ebenso Unvorhersehbares wie Unvermeidbares. Mit welchen Erklärungsversuchen können Sie am ehesten etwas anfangen, was waren die Hauptgründe?

Morton: Die Absicht der österreichischen Regierung war folgende: still und heimlich einen Monat lang ein Ultimatum zu verfassen; es ganz plötzlich zu überreichen und dabei zu wissen, dass es unannehmbar war – der österreichische Botschafter in Belgrad hatte schon gepackt, als er den serbischen Premier zu sich bestellte, um ihm das Ultimatum zu überreichen. Man rechnete mit einer schnellen Strafexpedition, während die anderen Mächte in den Sommerferien überrascht würden und nicht reagieren würden. Das ging schief, weil der kleine Funken übersprang und die Massen begeistert waren, dass sich die ganze Spannung, die sich durch ihre Lebensart aufgestaut hatte, entladen konnte. Sie tanzten auf dem Vulkan, weil sie dachten, das würde sie befreien.

STANDARD: Was würden Sie zu dieser Gemengelage sagen, Herr Illies? Musste es so kommen?

Illies: Ich hab diese Gründe zu Schulzeiten gelernt; da gab es sieben oder acht. Im Studium wurde es differenzierter betrachtet, aber es war eigentlich eine ähnliche Form, wo man A, B und C zusammenzählte, und dann kam D heraus. Meine Beschäftigung mit dem Jahr 1913 hat dazu geführt, dass ich auf die Frage keine Antwort geben möchte. Wenn man sich in die Geschichte und in das, was Fred Morton gerade die underlying dynamics genannt hat, hineinvertieft: da gibt es derart viele dieser gleichzeitigen Dynamiken, dass man jeder Form der Festlegung gegenüber skeptisch bleiben muss. Ich kann nur feststellen: Dass es zu diesem Krieg kommen würde, war aus der Sicht von 1913 nicht absehbar. Wenn man auf bestimmte Parameter schaut, deutete es sich an. Wenn man auf andere schaut, dann nicht. Trotzdem ist man nachher geneigt, Kausalketten zu ziehen, die nur deswegen gezogen werden, weil der Krieg eben gekommen ist.

STANDARD: Es sind jetzt 100 Jahre vergangen. Das mag ein dem Dezimalsystem geschuldeter Anlass sein, aber dennoch einer, der zum Rückblick Anlass gibt. Gibt es etwas, das zum Vergleich oder zum „daraus Lernen" berechtigt?

Illies: Ich glaube, solche historischen Anlässe bieten zum Glück die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Wir beschäftigen uns ja auch mit der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, und im selben Jahr wurde Georg Büchner geboren. Das alles ermöglicht einer Gegenwart, sich neu zu positionieren. Die Vergangenheit wird immer wieder neu interpretiert und natürlich immer aus der eigenen Perspektive heraus. Das heißt, wenn ich jetzt zu meiner Freude sehe, dass mein Buch in verschiedenen europäischen Ländern erscheint, dann steht da etwa als Untertitel "Das letzte goldene Jahr des alten Europa". In der derzeitigen ungeklärten europäischen Lage wird also im Rückblick klar, dass es damals eine kultureuropäische Verbindung zwischen den Ländern gegeben hat. Wir offenbaren hier viel von unseren gegenwärtigen Sehnsüchten und Verwirrungen. Das finde ich das Positive, dass man in der Gegenwart versucht, die kulturellen Wurzeln wieder kennen zu lernen.

Morton: Der große amerikanische Philosoph George Santayana hat glaube ich einmal gesagt, dass, wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen. Das fasst wohl zusammen, was Herr Illies gemeint hat. Wir sind so besessen von der Zukunft und davon, uns dauernd Neues auszudenken – was ich für eines der Laster unserer Zeit halte. Wenn wir uns mehr an die Fehler der Vergangenheit erinnerten, wären wir besser in der Lage, die Fallen der Zukunft zu vermeiden.

STANDARD: Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch. (Michael Freund, DER STANDARD, 30.11./1.12.2013, Langfassung)