STANDARD: Was ist Populismus?
Jan-Werner Müller: Populismus ist ein moralistisches Verständnis von Politik, das ein homogenes, reines, normalerweise hart arbeitendes "Volk" einer angeblich korrupten Elite gegenüberstellt. Die Überzeugung dahinter ist, dass nur einige Mitglieder des empirischen Volkes wirklich "das Volk" sind. Das behaupten die Populisten zu repräsentieren; sie allein sind ihrem Verständnis nach die Vollstrecker des authentischen, eindeutig bestimmbaren und unbestreitbaren Volkswillens.
STANDARD: Was passiert, wenn Populisten an die Macht kommen?
Müller: Viele Populismusforscher meinen, Populisten könnten gar nicht regieren, weil es sich weitgehend um Protestparteien handele - und Protest könne nicht regieren, weil man nicht gegen sich selber protestieren könne. Aber es gibt durchaus einen populistischen Regierungsstil. Populisten betreiben etwas, das man als Massen-Klientelismus beschreiben könnte: Sie belohnen ihre Anhänger, besetzen den Staat mit ihren Leuten. Das machen andere Parteien zwar teilweise auch. Aber bei den Populisten hat es eine gewisse innere Stringenz: Denn sie haben ja im Vornherein gesagt: Das Volk ist gar nicht das ganze Volk. Nur ein Teil des Volkes ist das wahre Volk, und dieses verdient es moralisch, Vorteile zu bekommen.
STANDARD: In den Worten der FPÖ heißt das zum Beispiel: "Unser Geld für unsere Leut'".
Müller: Oder nehmen sie die Fidesz-Regierung in Ungarn: Die betreibt auch lupenreine Klientel-Politik, tritt aber zugleich mit einem hohen moralischen Anspruch auf. In deren Logik hat es nur das "Fidesz-Volk" verdient, dass man sich um es kümmert, den Rest der Menschen kann man eigentlich ohne schlechtes Gewissen außen vor lassen. Populisten tun Dinge und sagen Dinge, die in sich gewisser Weise und in deren Logik stringent sind.
STANDARD: Die Frage müsste also lauten: Wie unterscheidet sich die Definition von Volkswille à la Populismus von dem in der liberalen Demokratie?
Müller: Der Populist tritt mit dem Anspruch auf: Ich alleine vollstrecke den einzig wahren Volkswillen. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung wollen Populisten nicht mehr direkte Demokratie oder weitergehende politische Partizipation; sie sind nicht gegen repräsentative Demokratie, sondern haben ein zutiefst illiberales Verständnis von ihr. Repräsentation soll bei ihnen wie ein imperatives Mandat funktionieren. Demokratie heißt aber, dass es Pluralismus gibt und Raum für Debatten. Und dass eben niemand in der Lage sein sollte, ohne weitere Legitimationszwänge das zu machen, was ihm passt, weil er behauptet, er verkörpere dabei als Einziger den Willen des Volkes. Die Populisten fördern eigentlich die Vorstellung eines passiven Volkes, um das der Populist sich als einziger wirklich kümmere.
STANDARD: Sie sagen, dass der Populismus auf ernstzunehmende Defizite in der liberalen Demokratie verweist. Inwiefern tut er das?
Müller: Viele liberale Demokratietheorien können nicht sagen, was "das Volk" sein soll. Wenn man jetzt meint, dass das Volk bestimmt, was das Volk ist, beißt sich die Katze in den Schwanz. Zu sagen, das Volk bestimme sich eben historisch, ist normativ keine zufriedenstellende Position. Die Populisten verweisen auf das Problem, dass wir keine gute Antwort haben auf die Frage, wie man Grenzen legitimiert.
STANDARD: Müsste man bei der Kritik des Populismus also eher auf seine Grundlagen - etwa seine Form des völkischen Denkens - als auf seine äußere Erscheinungsform abzielen? Kritisiert werden ja gerne die simplen Botschaften, die Inszenierung, die Feindbildkonstruktion.
Müller: Ja, denn diese übliche Kritik am Populismus fruchtet nicht unbedingt. Nicht jeder, der den Euro kritisiert, ist per se populistisch. Die Aussage "Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa" ist ja genauso vereinfachend und wird der vielschichtigen Wirklichkeit der europäischen Integration nicht gerecht.
STANDARD: Wie verhält sich der Populismus zum Nationalismus? Die konstruierte Gemeinschaft, auf die er sich bezieht, definiert sich ja vor allem über die Abgrenzung zu den "Anderen".
Müller: Gerade der Rechtspopulismus konstruiert immer ein Oben und Unten, wobei sowohl die ganz oben als auch die ganz unten nicht dazugehören - denken Sie an linksliberale oder auch neoliberale Eliten in Ost- und Mitteleuropa auf der einen Seite und die Roma auf der anderen. Gleichzeitig konstruieren Populisten eine unheilige Allianz zwischen dem Unten und dem Oben. So fördern die illegitimen Eliten oben in dieser Logik die Menschen unten, die eigentlich keine Unterstützung verdienen, etwa mit Subventionen. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, werden etwa im europäischen Kontext beide, also Unten und Oben, von einer außenstehenden Macht, nämlich dem angeblichen "Monster Brüssel" unterstützt und finanziert.
STANDARD: Sind Emotionen als Transportvehikel für Inhalte immer manipulativ, weil sie auf Affekte zielen?
Müller: Wer Populisten darauf reduziert, dass sie auf der "Klaviatur der niederen Instinkte" spielen, macht es sich zu einfach. Die Abgrenzung, wer mit Emotionen Politik betreibt und wer nicht, ist schwer zu machen.
STANDARD: Die westliche Gesellschaft ist zunehmend fragmentiert, die Mediennutzung hoch individualisiert, es gibt keinen gemeinsamen Ort der Informations- und Identitätsgewinnung mehr. Muss, wer hier regieren will, nicht vereinfachende Botschaften verwenden?
Müller: Wir treten in ein Zeitalter ein, das man mit der italienischen Philosophin Nadia Urbinati eine direkte repräsentative Demokratie nennen könnte, auch wenn das zunächst paradox klingt. Denken Sie an Beppe Grillo in Italien. Er sagt: Wir können die Mittelsmänner und -frauen umgehen, wir brauchen die traditionellen Parteien und die traditionellen Medien nicht mehr. Wir brauchen niemanden mehr, der politische Grundsatzentscheidungen und Weltanschauungen für uns aufbereitet, wir können direkt in den Diskurs einsteigen. Die Vorstellung, dass man zumindest bis vor die Tore des Parlaments vordringen kann, ohne irgendwelche Zwischenleute, das ist neu, und es ist größtenteils eine Illusion. Aber es trägt das Versprechen von individueller Autonomie und Ermächtigung in sich. Die guten alten Tage der großen Volksparteien, wo jeder sich je nach Präferenz und Milieu aufgehoben fühlen konnte: Die ist wohl permanent perdu.
STANDARD: Welche Rolle spielen die Medien in der Herausformung von Populismus - wenn sie etwa Politik personalisieren und Aussagen zuspitzen, um sie vermittelbar zu machen?
Müller: Das ist ein langfristiger Trend, der dazu beigetragen hat, die Bedingungen für Populismus zu schaffen. Die Medien haben den Populismus aber nicht hervorgebracht. In Ost- und Mitteleuropa ist dieser Trend schon länger im Gange, auch, weil sich dort nach 1989 nie feste Parteiensysteme etabliert haben. Man sollte darüber nachdenken, ob es heute nicht sinnvoll wäre zu sagen: Der Osten ist die Zukunft des Westens. Denn vieles von dem, was man heute als sehr gefährlich in Ost- und Mitteleuropa wahrnimmt, ist in anderen Teilen Europas denkbar. Teilweise ist es schon da.
STANDARD: Finden unter dem Begriff des Rechtspopulismus nicht auch Parteien und Bewegungen Unterschlupf, die man korrekterweise eher als rechtsextrem oder neofaschistisch bezeichnen müsste?
Müller: Hier wäre in der Tat mehr Begriffsarbeit nötig. Man macht es jedenfalls zu einfach, wenn man eine Symmetrie der Extreme konstruiert. Zu sagen, dass Syriza in Griechenland das Gegenstück zur Goldenen Morgenröte wäre, und dass sich diese Extreme irgendwo treffen, das ist nicht gerechtfertigt. Es reicht nicht, Globalisierungskritiker mit vielleicht naiven Vorstellungen von Ökonomie zu sein, um sich als Populist zu qualifizieren. Der Populismus-Test ist, ob jemand sagt: Ich - und nur ich - vertrete das französische, das deutsche oder das österreichische Volk. Aber nicht alle Rechtspopulisten sind rechtsextrem, nicht alle stellen eine Systemfrage und sagen: Wir würden das gesamte System gerne in eine eindeutig undemokratische Richtung umbauen.
STANDARD: Allerdings sollte man das in einer wehrhaften Demokratie als Partei auch nicht sagen, wenn man kein Parteiverbot riskieren will.
Müller: Ein entscheidender Unterschied zwischen Rechtsextremen und Rechtspopulisten ist, dass die Rechtspopulisten, obwohl sie keine wahren Demokraten sind, in letzter Konsequenz bereit sind, die Spielregeln einzuhalten. Orban sagte 2002 zwar: Die Nation kann nicht in der Opposition sein - aber er hat den Wahlverlust letztlich doch akzeptiert, wenn auch unter enormem Protest. Aber es gab eben keinen Bürgerkrieg in Ungarn. Bei der Goldenen Morgenröte in Griechenland oder auch bei Jobbik in Ungarn wäre das nicht so sicher. Da müsste man meiner Meinung nach ernsthaft über Parteiverbote nachdenken.
STANDARD: Sie sagen, dass Parteiverbote bei den Populisten nach hinten losgehen würden.
Müller: Ganz sicher. Ein Verbot würde die Populisten in ihrer Märtyrerrolle legitimieren und in ihre Behauptung stärken, dass sie die einzigen sind, die Tabus brechen und die "unbequeme Wahrheit" sagen.
STANDARD: Wie entzieht man Populisten dann den Boden - eine Stunde politische Bildung in den Pflichtschulen pro Woche wird wohl nicht reichen.
Müller: Es gibt kein Patentrezept. Eine opportunistische Strategie ist der Versuch, die Themen der Populisten zu übernehmen, sie damit klein zu halten. Das funktioniert offenbar nicht, denn man legitimiert die Populisten damit erst recht. Die völlige Ausgrenzung bringt auch wenig. Man sollte also in ein politisches Engagement eintreten und sagen: Wir nehmen die Leute und auch ihre Argumente ernst. Die Fragen ernst zu nehmen heißt ja noch nicht, die Antworten zu akzeptieren. Man sollte von der Ebene der einzelnen Politikfelder wegkommen hin zu Grundsatzfragen: Was gibt Euch eigentlich das Recht, Euch als einzige wahre Vertreter des Volkes zu verstehen? Warum gehören denn bestimmte Andere anegblich nicht dazu? Lässt sich das wirklich offen rechtfertigen? (Lisa Mayr, DER STANDARD, 27.11.2013)