In einer Staubwolke donnern 40 bis 50 Pferde dem Ziel entgegen. Halbwüchsige Jungen und Mädchen, meist nicht älter als ihre Pferde, stehen in den Steigbügeln, stoßen wilde Schreie aus und treiben mit ihren Gerten, die sie links und rechts niedersausen lassen, die schweißnassen Pferde nach unglaublichen 20 oder 30 km querfeldein zum Endspurt an. Eine Orgie der Farben: die Pferde mit bunten Bändern geschmückt, die Reiter in leuchtendes Rot, Blau, Violett und Orange gekleidet, dazu Fähnchen, die im Wind flattern.

Jeder kleine Mongole träumt davon, einmal als Sieger ins Ziel zu kommen. Das Siegerpferd verschwindet sofort in der Menge der Bewunderer. Es wird solange herumgeführt, bis es trocken ist. Bei der anschließenden Siegerehrung wird ein Loblied auf Pferd und Reiter angestimmt. Siegeskranz gibt es übrigens keinen. Die Jockeys erhalten einen Schluck der gegorenen Stutenmilch, der Rest wird über das Pferd gegossen.

Einmal im Jahr, zum Nadom-Fest am Höhepunkt des kurzen mongolischen Sommers, wenn die Schafe ihre Lämmer geboren haben, wird die Erinnerung an die Reiterhorden des Dschingis Khan wieder lebendig. Nadom ist die Kurzform für "Erijn guerwan naadom", was "Drei Spiele der Männer" bedeutet. Gemeint sind die drei Sportarten, mit denen die Mongolen einst ihr Weltreich eroberten: Reiten, Ringen und Bogenschießen. Wobei "männliche Sportarten" nicht mehr stimmt. Nur der Ringkampf ist ausschließlich Männern vorbehalten, Jockeys sind wegen ihres geringen Gewichts ausschließlich Kinder, Buben und Mädchen, und am Bogenschießen nehmen auch Frauen teil.

Bereits Dschingis Khan soll Spiele für seine Untertanen nach erfolgreichen Schlachten und zum Training seiner Krieger veranstaltet haben. Während der sieben Jahrzehnte des Sozialismus feierte man zur gleichen Zeit den Tag der Revolution, zu stark war das Fest im Volk verankert. Und wenn am 11. und 12. Juli unter den Besten aus allen 19 Aimaks, den Provinzen des Landes, die Sieger in den traditionellen Sportarten ermittelt werden, dann kommt die Mongolei zum Stillstand, sind die Probleme des Alltags vergessen. Jeder Mongole kennt die Namen und den Lebenslauf der besten Athleten und Pferde. Bis zum nächsten Fest bilden die Wettkämpfe genug Gesprächsstoff für die langen Abende.

Neben dem Reiten ist Ringen der mongolische Volkssport Nummer 1. Zuerst umkreist das Ringerpaar mit ausgestreckten Armen und wiegenden Schritten die Nationalflagge. Sie ahmen den Flug des Adlers nach, der den Mongolen als Symbol der Stärke gilt. Alle Ringer tragen traditionelle Kleidung, zumindest in der Hauptstadt: Stiefel mit aufgebogenen Spitzen und eine Jacke mit dicken, metallenen Knöpfen. Das "Oberteil" ist brustfrei, seit sich einmal am Ende eines Turniers herausgestellt haben soll, dass der Sieger eine Frau war. Der Schiedsrichter nimmt die Hüte der beiden Kontrahenten entgegen, der Kampf kann beginnen. Um den Gegner aufs Kreuz zu legen, ist jeder Griff erlaubt. Verloren hat, wer mit einem anderen Körperteil außer den Füßen den Boden berührt. Gekämpft wird ohne Gewichtsklassen und im k.o.-System.

"Falke", "Elefant" und "Löwe" sind die Titel, die den ersten drei Siegern eines Wettkampfs in Ulan Bator gebühren. Und "Riese" darf sich nennen, wer beim Nadom in der Hauptstadt mehrere Male gegen sämtliche Gegner siegreich geblieben ist. Auf eine Entfernung von etwa 75 Metern treffen sie sicher die Lederringe, die als Ziele dienen. In Ulan Bator misst sich die sportliche Elite des Landes bei der Mongolen-Olympiade vor mehr als 100.000 Zuschauern.

Interessanter, stimmungsvoller und hautnah erlebt man jedoch die Nadoms in den kleinen Zentren der Aimaks und Somonen. Dort gibt es keine Absperrungen, keine Ordner, keine Tribünen. Nur der Überblick ist für Touristen etwas eingeschränkt. Denn auch die Zuschauer sitzen in der Mongolei stolz auf Pferden und beobachten alles von einer höheren Ebene. Das macht das Leben der Zweibeiner und das Fotografieren etwas mühsam und manchmal einigermaßen stressig, vor allem dann, wenn man kein ausgesprochener Pferdefan ist.

In den Wettkampfpausen feiern die Mongolen ausgiebig mit Freunden und Unmengen von Kumys, der vergorenen Stutenmilch, und mongolischem Wodka. Ihr breites, offenes Lächeln und ihre direkten Blicke zeugen von Stolz, Selbstvertrauen und Ausgeglichenheit. In diesen kleinen Zentren außerhalb der Hauptstadt kann es schon vorkommen, dass man als Ehrengast in die Festjurte eingeladen wird. Und kein Fest, keine Einladung ohne Lieder. Der Gesang der Mongolen spiegelt die enge Beziehung zur beseelten Natur, zu Pferden und zur Liebe. Mehr Kumys, mehr Lieder. Sie singen, wir singen. Ein gelungener Kulturaustausch. Kaum vorstellbar, dass diese liebenswürdigen Menschen Nachfahren jener sind, die vor 700 Jahren mit Feuer und Schwert fast die Hälfte der damals bekannten Welt beherrschten. (Hans Först, DER STANDARD Printausgabe 2000)